Leonie Loretta Scholl

Berlin 4 Lovers

Die Tinder-App läuft im Standby immer mit. Foto: deja vu Film
(Kinostart: 24.10.) Dating-Stress und Einsamkeit: Die Regisseurin Leonie Scholl porträtiert junge Städter, deren Erfahrungen mit dem Internet-Verkupplungsportal Tinder durchaus widersprüchlich sind – das komplexe Psychogramm einer Generation.

Gemächlich schwebt die Kamera über Berlin: Autos, U-Bahnen und Menschen bewegen sich über Straßen, Brücken und Schienen. Dann dreht die nach unten gerichtete Linse nach vorne – und zeigt die Stadt, von der zuvor nur Ausschnitte zu sehen waren, im vollen Ausmaß. Symbolträchtiger als im Dokumentarfilm „Berlin 4 Lovers“ kann eine Eröffnungssequenz kaum sein.

 

Info

 

Berlin 4 Lovers

 

Regie: Leonie Loretta Scholl,

72 Min., Deutschland 2019;

mit: 10 Wahlberlinern und
Wahlberlinerinnen

 

Weitere Informationen

 

Der anfangs eingeschränkte Fokus löst sich in Weitläufigkeit auf; er steht für die Sehnsüchte und Hoffnungen junger Menschen zwischen ihrer individuellen und einer breiteren gesellschaftlichen Perspektive. Alle zehn Frauen und Männer zwischen 23 und 35 Jahren, die Regisseurin Leonie Loretta Scholl porträtiert, sind – oder waren – auf der Suche nach Intimität. Sie stecken in einem in ihrer Generation durchaus verbreiteten Zwiespalt, wenn sie sich fragen, wie sich ihr Wunsch nach Freiheit mit dem nach Zweisamkeit vereinbaren lässt.

 

Nix Langfristiges

 

Und ob die Dating-App Tinder wohl eine gute Option ist, unkompliziert mögliche Partner kennenzulernen? Auf dem Portal sind weltweit Millionen von Nutzern mit Foto und knapper Selbstbeschreibung angemeldet. Dass es für manche doch nicht so unkompliziert ist, erklärt die 29-jährige Requisiteurin Karoline gleich zu Beginn. Tinder ermögliche ihr einerseits, viele Männer in kurzer Zeit kennenzulernen. Andererseits würde sich daraus selten etwas Langfristigeres ergeben, erzählt sie mit angewinkelten Knien in ihrem kühlen Wohn-Atelier. Sie kritisiert den „Egoismus der Männer“ und ihre mangelnde Bereitschaft, sich festzulegen.

Offizieller Filmtrailer


 

Mehr als Bravo-TV für Erwachsene

 

Das Unverbindliche findet Benjamin „cool“; vor kurzem ist er wegen eines Jobs nach Berlin gezogen. Er schwärmt von den „lockeren“ Dates, die er schon hatte. Die 25-jährige Sarah sieht es ähnlich. Man dürfe diese Tinder-Begegnungen nicht so ernst nehmen, sagt sie. Alles locker zu nehmen, scheint anderen deutlich schwerer zu fallen; zumal etwa der aus Brasilien stammende Gabriel die Stadt und seine Bewohner nicht gerade als „warm“ empfindet.

 

Auf den ersten Blick wirken diese Einblicke wie Bravo-TV für Erwachsene. Doch auf den zweiten entsteht hier ein Psychogramm junger Großstädter im 21. Jahrhundert. Die Doku stellt abstrakten medialen Zuschreibungen – etwa, dass es sich hier um eine von scheinbar unendlichen Möglichkeiten „überforderte“ Generation handele – konkrete Menschen gegenüber. Dass eigentlich positive Begriffe wie Freiheit und Unabhängigkeit bei ihnen eher negativ konnotiert sind, deutet auf eine Verwechslung von Symptom und Ursache hin.

 

Jeder scheint ersetzbar

 

Die Schwierigkeiten, intime Beziehungen aufzubauen, sind nicht Tinder zuzuschreiben, sondern der Gesellschaft, die derartige Phänomene hervorbringt. Während Tinder manchem einfach nur spontanen Sex verspricht, scheint es anderen Nutzern darum zu gehen, für kurze Zeit der Einsamkeit zu entkommen. Sie entsteht, weil Menschen so unabhängig und unverbindlich wie möglich bleiben wollen – was auch mit den Lebensstilen der hier Porträtierten zu tun hat.

 

Fast alle arbeiten in kreativen Berufen; also in Branchen, in denen Flexibilität und Selbstverwirklichung einen hohen Stellenwert haben. So spricht der Internet-Redakteur Dennis davon, dass die geschönten Bilder, die man bei Tinder sieht, nie den Begegnungen im wahren Leben standhielten – und dass die Nutzung der App stets vom Gefühl begleitet sei, selbst leicht ersetzbar zu sein.

 

Zuschauer darf weiterdenken

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Liebe Mich!" – charmantes Low-Budget-Beziehungsdrama unter Berliner Twentysomethings von Philipp Eichholtz

 

und hier eine Besprechung des "Violently Happy" – eindrucksvolle Doku über SM-Erotik, Tanz + Körpererfahrungen in der Berliner "Schwelle 7" von Paola Calvo

 

und hier einen Bericht über den Film "Love Steaks" – rasant realistischer Film über Amour-Fou-Jugendliebe von Jakob Lass

 

und hier einen Beitrag über den Film "Victoria" - sportlich gefilmter Berlin-Nachtleben-Thriller von Sebastian Schipper.

 

Die Einzigartigkeit ihrer Gesprächspartner will die Regisseurin dagegen allzu bemüht betonen. So wandert die Kamera während der Interviews rastlos durch die Wohnungen, bevor sie bei irgendeinem Detail verharrt, einem aufgeschlagenen Buch etwa. Der Versuch, dadurch Intimität herzustellen, erscheint etwas angestrengt; trotzdem wirken die Interviewten durchweg authentisch. Dass ihre Gedankenfetzen nicht weiter kommentiert werden, ist eine Stärke des Films.

 

Scholl verzichtet auf tiefergreifende Analysen und überlässt das Weiterdenken den Zuschauern. So schafft sie eine ethnographische Momentaufnahme des digitalen Zeitalters. Auch wenn ihre Protagonisten weitgehend zum weißen, urbanen Mainstream gehören und ein recht homogenes Milieu abbilden, steckt darin durchaus Erkenntnisgewinn. Geht mit der App, deren Nutzer sich wie ein Produkt in einem Katalog anbieten, vielleicht eine Rationalisierung des Begehrens einher? Die ließe sich wiederum auf die unromantische Frage eindampfen, ob es sich „lohnt“, in eine Person zu investieren.

 

Nur auf dem Handy-Display ideal

 

Ist Tinder nicht vor allem Symptom einer Gesellschaft, die zunehmend marktförmig denkt – bestärkt von der gefühlten Notwendigkeit, sich in sozialen Netzwerken optimal darzustellen? Der gut 70-minütige, angenehm kurzweilige Film zeigt: Heutzutage ist Liebe so widersprüchlich wie die Gegenwart, die paradoxe romantische Ideale hervorbringt: Alle wollen lieben, sich aber nicht binden – alle wollen geliebt werden, ihre Freiheit aber nicht aufgeben.

 

Neben dem menschlichen Wunsch nach Zuneigung steckt darin wohl auch die Sehnsucht, etwas Besonderes zu sein. Auch das ist nichts wirklich Neues. Doch durch die Digitalisierung privater Welten entwickelt dieser Wunsch größere Wirkungsmacht: Das Idealbild des Anderen existiert nicht mehr nur in der Fantasie der Einzelnen, sondern als echter, aber simulierter Avatar auf dem Handy-Display – und erschwert die wirkliche, zwangsläufige unperfekte Begegnung.