Siegfried Lenz‘ 600-seitiger Roman „Deutschstunde“, der 1968 erschienen ist, gilt als einer der wichtigsten Romane der deutschen Nachkriegsliteratur. Ein halbes Jahrhundert später nimmt sich Christian Schwochow dieses Werks an; der Regisseur hat bereits mit Filmen wie „Westen“ (2014) oder „Paula“ ein gutes Händchen für historische Stoffe bewiesen. Bei der Adaption dieses sehr deutschen Romans reduziert er die ausufernd elliptische Erzählung auf das Wesentliche.
Info
Deutschstunde
Regie: Christian Schwochow,
130 Min., Deutschland 2019;
mit: Ulrich Noethen, Tobias Moretti, Levi Eisenblätter
Freund soll Malverbot überwachen
Er schreibt sein Heft voll mit Erinnerungen an seine Kindheit im norddeutschen Rugbüll und seinen Vater Lars Ole Jepsen (großartig: Ulrich Noethen), der dort als Polizist seinen Dienst mehr als gewissenhaft versieht. 1944 muss er seinem Jugendfreund, dem expressionistischen Maler Hans Peter Nansen (Tobias Moretti) die Nachricht überbringen, dass gegen ihn ein Malverbot verhängt wurde – was Jepsen überwachen soll. Mithilfe seines elfjährigen Sohns Siggi (Levi Eisenblätter), dem er damit eine viel zu große Verantwortung aufbürdet.
Offizieller Filmtrailer
Noldes NS-Verstrickung wird ignoriert
Der Polizist stürzt seinen Sprössling in einen Gewissenskonflikt: Er ist hin- und her gerissen zwischen Gehorsam oder Widerstand, Eigensinn oder blinder Pflichterfüllung, denn der Maler ist wie ein zweiter Vater für ihn. Regisseur Schwochow behält in seiner Adaption die Doppelstruktur des Romans mit Rahmen- und Binnenhandlung bei und zitiert sogar manche Dialoge wörtlich.
Der fast volljährige Siggi erinnert sich dabei an sein elfjähriges Ich im Elternhaus, das von düsterem Schweigen und Enge geprägt ist. Weite und Freiheit gibt es nur draußen am Meer, in den Dünen und bei seinem Patenonkel, dem Maler. Die im Roman unübersehbare Ähnlichkeit dieser Figur mit dem Expressionisten Emil Nolde spart der Film jedoch aus; damit drückt er sich offensichtlich darum herum, dessen Verstrickung ins Dritte Reich als eingefleischter Antisemit, NSDAP-Mitglied und glühender Hitler-Verehrer darzustellen.
Existenzbedrohende „Entartete Kunst“
Allerdings war das bei der Erstveröffentlichung des Romans noch kein Thema. Nolde hatte sich nach dem Krieg erfolgreich zum Opfer des NS-Regimes stilisiert; diese Legende übernahm Autor Lenz bedenkenlos. Dagegen wurde in jüngster Zeit eingehend erforscht, wie opportunistisch sich Nolde anfangs den NS-Größen angebiedert hatte, was er nach dem Krieg strikt leugnete – das haben große Ausstellungen im Frankfurter Städel und dem Hamburger Bahnhof eindrucksvoll vorgeführt.
Wohlwollend mag man Regisseur Schwochow daher ein Bemühen um Werktreue unterstellen. Da wird die Figur des Malers Nansen zum libertären Antipoden von Siggis autoritärem Vater, in dessen für Gäste stets offenem Haus bunt und laut gefeiert wird. Das ändert sich schlagartig, als den Maler das Malverbot doch noch ereilt und seine Bilder als „Entartete Kunst“ konfisziert werden; das bedroht seine Existenz.
Bilder-Transport als Deportation
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Emil Nolde: Eine deutsche Legende - Der Künstler im Nationalsozialismus" - im Hamburger Bahnhof, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Emil Nolde - Retrospektive" samt NS-Verstrickung des Künstlers im Städel Museum, Frankfurt am Main
und hier einen Bericht über den Film "Paula – Mein Leben soll ein Fest sein": gelungenes Biopic der Malerin Paula Modersohn-Becker von Christian Schwochow
und hier einen Beitrag über den Film "Westen" - packendes Drama über DDR-Flüchtlinge im Notaufnahmelager von Christian Schwochow
und hier eine Kritik des Films "Die Blumen von Gestern" - aberwitzig groteske Tragikomödie zur NS-Aufarbeitung von Chris Kraus mit Lars Eidinger
Vom in ganz Europa tobenden Krieg ist wenig zu merken; es gibt auch kaum Nazi-Symbolik. Dennoch ist dieses wie aus der Zeit gefallene Dorf vom Regime geprägt; etwa wenn Nansens Bilder von einem LKW abtransportiert werden, was Schwochow bewusst wie eine Deportation inszeniert. Siggi flüchtet sich in die Einsamkeit und fertigt aus Vogelskeletten morbide Skulpturen. Helfen kann ihm niemand – man spricht hier nicht über Gefühle oder Sorgen; die Mutter ist schon lange verstummt.
Keine Dämonisierung
Das Nichtsprechen, Vermeiden und Ausweichen der Figuren einzufangen, gelingt Schwochow dank des exzellenten Ensembles hervorragend. In kurzen Blicken, Gesten oder Innehalten steckt hier mehr Emotion als in manch langem Monolog. Sein langjähriger Kameramann Frank Lamm komponierte dazu passende Bilder, mal in malerischer Landschaftsweite, mal in klaustrophobischer Enge, die nur Unheil gebären kann. Dafür kann man über die eine oder andere Schwäche des Drehbuchs hinwegsehen, das am Ende etwas sprunghaft wirkt.
Wie der Roman ist auch seine Verfilmung eine Art Lehrstück über Integrität und gesunden Menschenverstand geworden, ohne die Moralkeule zu schwingen. Dabei psychologisiert Schwochow kaum und dämonisiert wenig, obwohl sich das bei Vater Jepsen anböte. Der Polizist wird als Archetyp des Opportunisten porträtiert, der sein Gewissen immer wieder beruhigt, indem er Schuld und Verantwortung auf andere abwälzt. Ein Verhaltensmuster, das heute wieder sehr erfolgreich von Populisten angewendet wird.