
Ganz große Oper will das Centre Pompidou in Metz bieten. Kein Wunder: Die 2010 eröffnete lothringische Zweigstelle des Pariser Stammhauses sieht selbst schon wie das Bühnenbild eines futuristischen Gesamtkunstwerks aus. Dafür haben die Architekten Shigeru Ban und Jean de Gastines drei übereinander gestapelte Galerien, die alle auf andere Himmelsrichtungen ausgerichtet sind, mit einer Holz-Membran-Hülle überzogen, die an ein Zirkuszelt erinnert.
Info
Die Oper als Welt - Die Suche nach einem Gesamtkunstwerk
22.06.2019 - 27.01.2020
täglich außer dienstags
10 bis 18 Uhr,
freitags und am Wochenende bis 19 Uhr
im Centre Pompidou-Metz, 1 parvis des Droits-de-l’Homme, Metz
Er wolle „die Begegnung zwischen bildender Kunst und Operngenre im 20. und 21. Jahrhundert“ erhellen, erklärt Kurator Stéphane Ghislain Roussel listig unbestimmt: Ihm gehe es um die beidseitige Beeinflussung der Disziplinen, vor allem durch Mitarbeit von Künstlern bei Opernproduktionen, aber nicht um eine umfassende Geschichte ihrer Wechselwirkungen.
Labyrinth als Stationendrama
Aus diesem recht vagen Ansatz entsteht ein fabelhafter Parcours in zehn Akten. Dafür hat die Bühnenbildnerin Małgorzata Szczęśniak ein abgedunkeltes Labyrinth angelegt, dessen Stationen wie Aufzüge im Musiktheater wirken: Als hebe sich der Vorhang, wenn man um die nächste Ecke biegt, und alles sieht anders aus.
Vor allem überraschend: Mal werden einzelne Opern wie Mozarts „Zauberflöte“ in diversen Inszenierungen durch bildende Künstler gewürdigt, mal Konzepte wie die des Gesamtkunstwerks beleuchtet oder die Darstellung menschlicher Körper auf der Bühne betrachtet. Allerdings, anders als im Singspiel, ohne Finale.
Werbetrailer zur Ausstellung; © Centre Pompidou-Metz
Von Gontscharowa bis Jarman
Mit vergleichsweise konventionellen Bühnenbildern geht es los – aber was für welchen! Die russische Avantgardistin Natalja Gontscharowa stattete 1914 für die renommierte Truppe „Ballets Russes“ des Impresarios Sergej Diaghilew die Tanzaufführung „Der Goldene Hahn“ aus: mit Prospekten voller fantastischer orientalischer Paläste in glühenden Farben.
Dagegen bebilderte der französische Künstler Roland Topor die Uraufführung der modernen Oper „Le Grand Macabre“ von György Ligeti 1980 in Stockholm mit grotesk utopischen Grafiken, die wie zeitgenössische Paraphrasen des Monster-Malers Hieronymus Bosch aussahen. Kollegen wie der Maler David Hockney oder der Filmregisseur Derek Jarman lieferten derweil für Oper-Produktionen Motive in ihrer bekannten Handschrift ab.
Feature zur Ausstellung mit Interviews (auf Französisch) mit Kurator Stéphane Ghislain Roussel + Paul-Émile Fourny, Intendant der Oper Metz; © Moto d'un jour
Erneuter „Sieg über die Sonne“
Schon dieser Start belegt: Zusammenhänge oder innere Logik sucht man eher vergeblich – wie bei den meisten Libretti klassischer Opern. Dafür überwältigt diese Schau mit einer Fülle disparater Eindrücke, die den ganzen Reichtum des Musiktheaters in den letzten eineinhalb Jahrhunderten seit Richard Wagner vorführen. Und damit auch eingefleischten Opernliebhabern manches Neue bieten: Wer hat schon die Zeit und Mittel, um international herausragende Produktionen systematisch abzuklappern?
Oder berühmtes Archivgut erstmals zu erleben: Auf einem Monitor läuft eine Re-Inszenierung von „Sieg über die Sonne“, der legendären kubofuturistischen Quasi-Oper, die 1913 in Sankt Petersburg uraufgeführt wurde – und danach nie wieder. Abstrakte Kostüme aus geometrischen Grundformen, ein Libretto in der lautmalerischen Zaum-Kunstsprache, thesenhafte Nicht-Handlung und kakophonische Musik überforderten das Publikum völlig.
Bis zum Schlingensief-Operndorf
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Maria by Callas" - Dokumentation über die weltberühmte Opernsängerin von Tom Volf
und hier eine Besprechung der Dokumentation "Bolschoi Babylon" - Skandalchronik des berühmtesten Musiktheaters in Russland von Nick Read
und hier einen Bericht über den Film "Lilien im Winter – La Bohème am Kap" – eindrucksvolle Verfilmung von Puccinis Opern-Klassiker in südafrikanischen Townships von Mark Dornford-May
und hier einen Beitrag über den Film "Knistern der Zeit" - informative Doku über Christoph Schlingensief + sein Operndorf in Burkina Faso.
Doch in Metz sind nicht nur Ausreißer und Außenseiter der Operngeschichte zu sehen, sondern auch wegweisende Mainstream-Inszenierungen. Angefangen mit Bühnenbild-Kästen für Wagner-Opern in den 1870/80er Jahren über spirituelle Symbolik in Aufführungen der Werke von Arnold Schönberg („Moses und Aron“ an der Opera Bastille, 2015) und Olivier Messiaen („Saint François d’Assise“ im Palais Garnier, 1983) bis zum Operndorf, das der 2010 verstorbene Skandal-Regisseur Christoph Schlingensief in Burkina Faso errichten ließ – der wohl vorerst letzte Versuch, theatralisches Bühnenspektakel und schnöden Alltag radikal miteinander zu verschmelzen.
Auferstehung aus dem Fundus
Diese Ausstellung unterlässt, was Opernkritik normalerweise tut: Sie gewichtet und bewertet nicht, sondern breitet einfach eine prächtige Auswahl dessen aus, was in der Zusammenarbeit von bildenden Künstlern mit Opernhäusern möglich ist. Dafür ist die flüchtige Kunst des Musiktheaters ein dankbarer Gegenstand.
Der ungeheure Aufwand, den ambitionierte Inszenierungen treiben, entwirft Gegenwelten, die nur wenige Abende lang Bestand haben – dann werden sie abgeräumt und verschwinden im Fundus. Im besten Fall erleben sie viele Jahre später ihre Wiederaufnahme: etwa in einer so klugen wie sinnlichen Themenschau wie dieser.