Metz

Die Oper als Welt – Die Suche nach einem Gesamtkunstwerk

Szene aus "Lulu" von Alban Berg, Bühnenbild und Kostüm von Małgorzata Szczęśniak,Théâtre Royal de la Monnaie, Brüssel, 2012, mit Barbara Hannigan (Lulu) und Tom Randle (der Künstler). Fotoquelle: © Centre Pompidou-Metz
Vorhang auf für kunstvolle Inszenierungen: Seit mehr als 100 Jahren wirken bildende Künstler am Musiktheater mit. Ihr Zusammenspiel beleuchtet das Centre Pompidou als opulent arrangierte Themenschau – mit großen Gefühlen und verblüffenden Effekten.

Ganz große Oper will das Centre Pompidou in Metz bieten. Kein Wunder: Die 2010 eröffnete lothringische Zweigstelle des Pariser Stammhauses sieht selbst schon wie das Bühnenbild eines futuristischen Gesamtkunstwerks aus. Dafür haben die Architekten Shigeru Ban und Jean de Gastines drei übereinander gestapelte Galerien, die alle auf andere Himmelsrichtungen ausgerichtet sind, mit einer Holz-Membran-Hülle überzogen, die an ein Zirkuszelt erinnert.

 

Info

 

Die Oper als Welt - Die Suche nach einem Gesamtkunstwerk

 

22.06.2019 - 27.01.2020

täglich außer dienstags
10 bis 18 Uhr,
freitags und am Wochenende bis 19 Uhr
im Centre Pompidou-Metz, 1 parvis des Droits-de-l’Homme, Metz

 

Weitere Informationen

 

Der exzentrische Bau hat sich längst als zugkräftiger Schauplatz für opulente Ausstellungen profiliert, oft zu originellen Themen abseits ausgetretener Kulturbetriebs-Pfade – nun also zum Verhältnis von Oper und Kunst.

 

Er wolle „die Begegnung zwischen bildender Kunst und Operngenre im 20. und 21. Jahrhundert“ erhellen, erklärt Kurator Stéphane Ghislain Roussel listig unbestimmt: Ihm gehe es um die beidseitige Beeinflussung der Disziplinen, vor allem durch Mitarbeit von Künstlern bei Opernproduktionen, aber nicht um eine umfassende Geschichte ihrer Wechselwirkungen.

 

Labyrinth als Stationendrama

 

Aus diesem recht vagen Ansatz entsteht ein fabelhafter Parcours in zehn Akten. Dafür hat die Bühnenbildnerin Małgorzata Szczęśniak ein abgedunkeltes Labyrinth angelegt, dessen Stationen wie Aufzüge im Musiktheater wirken: Als hebe sich der Vorhang, wenn man um die nächste Ecke biegt, und alles sieht anders aus.

 

Vor allem überraschend: Mal werden einzelne Opern wie Mozarts „Zauberflöte“ in diversen Inszenierungen durch bildende Künstler gewürdigt, mal Konzepte wie die des Gesamtkunstwerks beleuchtet oder die Darstellung menschlicher Körper auf der Bühne betrachtet. Allerdings, anders als im Singspiel, ohne Finale.

Werbetrailer zur Ausstellung; © Centre Pompidou-Metz


 

Von Gontscharowa bis Jarman

 

Mit vergleichsweise konventionellen Bühnenbildern geht es los – aber was für welchen! Die russische Avantgardistin Natalja Gontscharowa stattete 1914 für die renommierte Truppe „Ballets Russes“ des Impresarios Sergej Diaghilew die Tanzaufführung „Der Goldene Hahn“ aus: mit Prospekten voller fantastischer orientalischer Paläste in glühenden Farben.

 

Dagegen bebilderte der französische Künstler Roland Topor die Uraufführung der modernen Oper „Le Grand Macabre“ von György Ligeti 1980 in Stockholm mit grotesk utopischen Grafiken, die wie zeitgenössische Paraphrasen des Monster-Malers Hieronymus Bosch aussahen. Kollegen wie der Maler David Hockney oder der Filmregisseur Derek Jarman lieferten derweil für Oper-Produktionen Motive in ihrer bekannten Handschrift ab.

Feature zur Ausstellung mit Interviews (auf Französisch) mit Kurator Stéphane Ghislain Roussel + Paul-Émile Fourny, Intendant der Oper Metz; © Moto d'un jour


 

Erneuter „Sieg über die Sonne“

 

Schon dieser Start belegt: Zusammenhänge oder innere Logik sucht man eher vergeblich – wie bei den meisten Libretti klassischer Opern. Dafür überwältigt diese Schau mit einer Fülle disparater Eindrücke, die den ganzen Reichtum des Musiktheaters in den letzten eineinhalb Jahrhunderten seit Richard Wagner vorführen. Und damit auch eingefleischten Opernliebhabern manches Neue bieten: Wer hat schon die Zeit und Mittel, um international herausragende Produktionen systematisch abzuklappern?

 

Oder berühmtes Archivgut erstmals zu erleben: Auf einem Monitor läuft eine Re-Inszenierung von „Sieg über die Sonne“, der legendären kubofuturistischen Quasi-Oper, die 1913 in Sankt Petersburg uraufgeführt wurde – und danach nie wieder. Abstrakte Kostüme aus geometrischen Grundformen, ein Libretto in der lautmalerischen Zaum-Kunstsprache, thesenhafte Nicht-Handlung und kakophonische Musik überforderten das Publikum völlig.

 

Bis zum Schlingensief-Operndorf

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Maria by Callas" - Dokumentation über die weltberühmte Opernsängerin von Tom Volf

 

und hier eine Besprechung der Dokumentation "Bolschoi Babylon" - Skandalchronik des berühmtesten Musiktheaters in Russland von Nick Read

 

und hier einen Bericht über den Film "Lilien im Winter – La Bohème am Kap" – eindrucksvolle Verfilmung von Puccinis Opern-Klassiker in südafrikanischen Townships von Mark Dornford-May

 

und hier einen Beitrag über den Film "Knistern der Zeit" - informative Doku über Christoph Schlingensief + sein Operndorf in Burkina Faso.

 

Kaum weniger extrem, aber deutlich zugänglicher ist „Einstein on the Beach“: Das minimalistische Opern-Epos von Robert Wilson und Philipp Glass wurde nach seiner Erstaufführung 1976 ein Klassik-Hit. Obwohl die wenigsten seiner Liebhaber es je selbst gesehen haben dürften: Die mehr als vierstündige Produktion, die ohne Handlung auskommt und nur aus repetitiven Gesten und Bühnenbild-Bewegungen besteht, kam höchst selten auf die Bühne. Hier ist dem epochalen Wurf ein eigenes Kabinett gewidmet – als Erinnerung an die vielleicht populärste Neuerung in der E-Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

 

Doch in Metz sind nicht nur Ausreißer und Außenseiter der Operngeschichte zu sehen, sondern auch wegweisende Mainstream-Inszenierungen. Angefangen mit Bühnenbild-Kästen für Wagner-Opern in den 1870/80er Jahren über spirituelle Symbolik in Aufführungen der Werke von Arnold Schönberg („Moses und Aron“ an der Opera Bastille, 2015) und Olivier Messiaen („Saint François d’Assise“ im Palais Garnier, 1983) bis zum Operndorf, das der 2010 verstorbene Skandal-Regisseur Christoph Schlingensief in Burkina Faso errichten ließ – der wohl vorerst letzte Versuch, theatralisches Bühnenspektakel und schnöden Alltag radikal miteinander zu verschmelzen.

 

Auferstehung aus dem Fundus

 

Diese Ausstellung unterlässt, was Opernkritik normalerweise tut: Sie gewichtet und bewertet nicht, sondern breitet einfach eine prächtige Auswahl dessen aus, was in der Zusammenarbeit von bildenden Künstlern mit Opernhäusern möglich ist. Dafür ist die flüchtige Kunst des Musiktheaters ein dankbarer Gegenstand.

 

Der ungeheure Aufwand, den ambitionierte Inszenierungen treiben, entwirft Gegenwelten, die nur wenige Abende lang Bestand haben – dann werden sie abgeräumt und verschwinden im Fundus. Im besten Fall erleben sie viele Jahre später ihre Wiederaufnahme: etwa in einer so klugen wie sinnlichen Themenschau wie dieser.