Thomas Piketty

Das Kapital im 21. Jahrhundert

Blick auf den Times Square in New York; Foto: Copyright: 2019 Upside and GFC (Capital) limited
(Kinostart: 17.10.) Erhöht die Spitzensteuersätze! Nur dadurch lassen sich Demokratie und Wohlstand erhalten, so der Ökonom Thomas Piketty. Seinen Weltbestseller von 2014 hat Regisseur Justin Pemberton brillant verfilmt: so komplex wie anschaulich, furios und präzise.

Es war der unwahrscheinlichste Bucherfolg seit Menschengedenken: 2014 wurde „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ von Thomas Piketty weltweit zum Bestseller. Ein 800-seitiges Fachbuch voller ökonomischer Analysen, Statistiken und Formeln erreichte ein Massenpublikum – weil es dem wachsenden Unbehagen am globalisierten Turbokapitalismus stichhaltige Argumente lieferte. Fragt sich nur, wie viele seiner Millionen Käufer den Wälzer durchgelesen und verstanden haben.

 

Info

 

Das Kapital im 21. Jahrhundert

 

Regie: Justin Pemberton,

103 Min., Frankreich/ Neuseeland 2019;

mit: Thomas Piketty, Francis Fukuyama, Joseph Stiglitz

 

Weitere Informationen

 

Nun gibt es einen leichteren Zugang: Der neuseeländische Doku-Regisseur Justin Pemberton, ein Spezialist für spröde Sujets, hat das Werk verfilmt. Mit ebenso unwahrscheinlichem Ergebnis: Er verwandelt trockene Theorie in einen mitreißenden Essay-Film. Auf hohem geistigen Niveau und rasant vorgetragen: Wer konzentriert bei der Sache bleibt, wird mit einer prägnant schlüssigen Wirtschafts- und Sozialgeschichte der vergangenen 200 Jahre belohnt – und bangen Zukunftsaussichten.

 

Mit Francis Fukuyama + Joseph Stiglitz

 

Dass dieses kühne Unternehmen glänzend gelingt, liegt an Pembertons enger Zusammenarbeit mit Piketty selbst. Der französische Wissenschaftler schreibt abstrakt und detailgesättigt, wie es seine Disziplin verlangt – aber er kann seine Kritik auch anschaulich und pointiert vortragen. Wie seine Kollegen, die zu Wort kommen; darunter linksliberale Stars der Sozialwissenschaften wie Francis Fukuyama und Joseph Stiglitz – neoklassische Mainstream-Gesundbeter der herrschenden Verhältnisse treten nicht auf.

Offizieller Filmtrailer


 

Weltkriege wirken egalitär

 

Dem Buch folgend, holt der Film weit aus; bis zur Ständeordnung des 18. Jahrhunderts. Damals war Einkommen extrem ungleich verteilt: Der Adel machte nur etwa ein Prozent der Bevölkerung aus, besaß aber mehr als zwei Drittel des gesamtgesellschaftlichen Vermögens. Daran änderten Industrialisierung und Kolonialismus im 19. Jahrhundert wenig. Zwar wechselten die Akteure; Adlige wurden von einer Kaste reicher Kapitalisten abgelöst. Doch die Einkommens-Ungleichheit blieb weitgehend bestehen; trotz heftiger Kämpfe der Arbeiterschaft für mehr Rechte und Teilhabe.

 

Dieses System implodierte nach dem Ersten Weltkrieg. Bis auf die USA waren alle kriegführenden Staaten quasi bankrott, das Gros der Bevölkerung ausgezehrt. Sie erzwang eine Umverteilung zugunsten des Gemeinwohls: Konzerne wurden verstaatlicht, Infrastruktur und Wohnungsbestand mit Steuergeldern massiv ausgebaut. Weltwirtschaftskrise und Kriegswirtschaft beschleunigten diesen Prozess: Der Zweite Weltkrieg zerstörte enorm viel Kapital, doch seine Folgen beförderten den Trend zu sozialer Egalität.

 

Soziale Schere öffnet sich weiter

 

Wiederaufbau und Wirtschaftswunder lösten eine epochale Wende aus. Erstmals sorgte die Politik für wachsende Kaufkraft der Bevölkerungsmehrheit und Massenkonsum: Ludwig Erhards Parole „Wohlstand für alle“ wurde zum Leitbild der westlichen Welt. Als dieses Modell Ende der 1970er Jahre erschöpft war, kam die Gegenbewegung: Neokonservative Regierungschefs wie Ronald Reagan und Margaret Thatcher setzten auf Rückzug des Staates, Privatisierungen, Steuersenkungen und stärkere Eigeninitiative.

 

Die „Reagonomics“ versprachen einen „trickle-down“-Effekt: Höhere Unternehmensgewinne führten zu mehr Investitionen und Produktion, was auch der Mittel- und Unterschicht zugute käme. Doch dieser Effekt trat nur zeitweise und nie flächendeckend ein. Die ökonomische Balance – eine Mehrheit der Wahlbürger hält die Macht der Minderheit von Kapitalbesitzern in Schach – geriet durch die Globalisierung ab den 1990er Jahren vollends aus dem Lot. Seither wächst der Anteil der Oberschicht am gesellschaftlichen Vermögen ständig, während derjenige der Mittel- und Unterschicht stagniert oder schrumpft: Die Reichen werden reicher, alle anderen sinken tendenziell ab. Die soziale Schere öffnet sich unaufhörlich.

 

Drei Viertel des Kapitals für Zocker

 

Für dieses Phänomen bietet Piketty eine Erklärung von universeller Reichweite sein: In den letzten 200 Jahren sei die Kapitalrendite der Besitzenden in der westlichen Welt stets doppelt bis drei Mal so hoch gewesen wie das Wirtschaftswachstum. Seine These wird bestritten; etwa mit dem Einwand, Statistiken aus dem 19. Jahrhundert seien so fehler- und lückenhaft, dass man daraus keine langfristigen Gesetzmäßigkeiten ableiten könne.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Machines" - bildgewaltiger Doku über die Ausbeutung indischer Fabrikarbeiter von Rahul Jain

 

und hier eine Besprechung des Films "The Big Short" - brillant vielschichtige Analyse der Finanzkrise 2007/8 von Adam McKay mit Christian Bale + Ryan Gosling

 

und hier einen Bericht über den Film "Der junge Karl Marx" – hervorragendes Biopic über den Philosophen + Kapitalismuskritiker von Raoul Peck mit August Diehl

 

und hier einen Beitrag über den Film "Der große Crash – Margin Call" – faszinierender Investmentbanken-Thriller von JC Chandor mit Kevin Spacey.

 

Unstrittig ist dagegen seine Diagnose der Gegenwart: Die Liberalisierung der Finanzmärkte hat diese extrem aufgebläht. Drei Viertel des Finanzkapitals werden nicht mehr in die Realwirtschaft investiert, sondern fürs Zocken an Börsen und mit Immobilien benutzt. Mit derart abgeschöpften Profiten raffen Spekulanten riesige Vermögen zusammen, um etwa die Innenstädte von Metropolen aufzukaufen.

 

Sowjetunion bleibt ausgeblendet

 

Zugleich bringt die Digitalwirtschaft weltweit operierende Tech-Konzerne hervor, die ihre in Flächenstaaten verdienten Gewinne in Steuerparadiese verschieben. Arbeit bleibt ortsgebunden, Kapital jagt weltweit nach Maximalrendite: Um die Verarmung breiter Schichten zu verhindern, wären höhere Steuern für Großverdiener und Holdings unumgänglich.

 

Zwei Jahrhunderte Ökonomie-Historie in hundert Minuten: Da geraten manche Aussagen notgedrungen holzschnittartig. Und wichtige Begleitumstände bleiben außen vor: etwa die Beobachtung, dass die Sozialpolitik der 1920er Jahre auf die Entstehung der Sowjetunion folgte – und die Entfesselung des Turbokapitalismus auf ihren Zusammenbruch. Die westlichen Eliten gestanden ihren Völkern mehr Besitz zu, um die Bedrohung durch den Kommunismus abzuwehren – nach 1990 waren solche Zugeständnisse überflüssig.

 

Bitte dazu Kaffee trinken

 

Doch insgesamt lässt Pemberton bewunderungswürdig präzise komplexe historische Zusammenhänge fast lückenlos mit Dutzenden von sound bites nacherzählen. Bebildert mit hervorragend ausgewähltem Archiv-Material von Stummfilm-Schnipseln bis zu Werbefotos, die den jeweiligen Sachverhalt vor Augen führen.

 

Furios geschnitten wie bei einem Videoclip; diese Doku versteht man nur hellwach oder mit zwei Tassen Kaffee. Was eine exzellente Bildungsinvestition ist: Scheinselbstständige, Ich-AGs und Start-Up-Beschäftigte, legt iPad oder Smartphone weg und seht Euch diesen Film an!