Josef Hader

Nevrland

Kristjan (Paul Forman) und Jakob (Simon Frühwirth). Foto: Edition Salzgeber
(Kinostart: 17.10.) Wenn sich Körper und Seele voneinander zu trennen scheinen: Der 17-jährige Jakob leidet unter Angst- und Panikattacken. Seine Erkrankung setzt Regisseur Georg Schmiedinger in anschauliche Bilderräusche um – inhaltlich offen und ohne Wertung.

Es ist ein freudloser Männerhaushalt, in dem der 17-jährige Jakob (überzeugend: Simon Frühwirth) mit seinem Vater (stoisch-zerknautscht: Josef Hader) und dem pflegebedürftigen Großvater lebt. Im Hintergrund läuft ständig die Glotze; das Graubrot auf dem Tisch sieht so trist aus wie die farbentsättigte übrige Wohnung. Kommunikation beschränkt sich aufs Nötigste.

 

Info

 

Nevrland

 

Regie: Gregor Schmidinger,

90 Min., Österreich 2019;

mit: Josef Hader, Simon Frühwirth, Paul Forman

 

Weitere Informationen

 

Jakobs Mutter, so erfährt man später beiläufig, hat sich aus dem Staub gemacht, als er noch klein war. Wirklich erinnern kann er sich nicht. Gerade hat der Teenager sein Abitur gemacht: Er will Kosmologie studieren, ein der Astrophysik verwandtes Teilgebiet der Astronomie. So tauchen in dieser Coming-Of-Age-Geschichte immer wieder auch Bilder des Weltalls auf, das für Jakob offenbar mentaler Flucht- und Ruhepunkt ist.

 

Entweder Panik oder Isolation

 

Vielleicht versinnbildlichen Bilder der endlosen Weiten aber auch nur seine gefühlte Isolation. Der junge Mann leidet nämlich an einer schweren Angststörung. Wenn er nicht gerade eine seiner Panikattacken durchlebt, fühlt er sich emotionsarm, ganz und gar abgeschnitten von der Welt. An einer Stelle dieses eindrücklichen, in der zweiten Hälfte jedoch etwas verrätselten Dramas beklagt er, dass er sich gar nicht „echt“ fühlen kann – einfach, weil er nichts fühlt.

Offizieller Filmtrailer


 

Freund aus dem Cam-Chat-Room

 

Dabei erzählt dieser Film nicht nur von Jakobs persönlicher Erkrankung, sondern auf unaufgeregte Weise auch von gesellschaftlichen Einwicklungen, die einsam machen: von virtuellen Realitäten und der Unnahbarkeit von Körpern. Nachts treibt sich Jakob in schwulen Cam-Chat-Rooms herum. Dort lernt er den 26-jährigen Kunststudenten Kristjan kennen; bald treffen sie sich in der realen Welt. Der charismatische Adonis bringt allerdings seine eigenen Probleme mit Nähe mit.

 

Trotzdem funktioniert er als eine Art Katalysator für Jakobs Auseinandersetzung mit sich selbst; familiäre Unterstützung findet er nämlich kaum. Den fiesen Ferienjob, den sein Vater ihm im Schlachthof beschafft hatte, ist er schnell wieder los, nachdem er dort einen Zusammenbruch erlitt hat. Danach werden ihm Psychopharmaka und eine Therapie verschrieben; darauf reagiert sein Vater mit einer Mischung aus Überforderung und Abwertung. Als sein Großvater stirbt, verschärft sich seine Krise.

 

Panik mit Leib-Seele-Trennung

 

Der 34-jährige österreichische Regisseur Gregor Schmidinger litt nach eigenen Worten im jungen Erwachsenenalter selbst an einer Angststörung. Sein Debütspielfilm beginnt zwar als Sozialstudie, wird aber bald zu einem bisweilen mysteriösen Trip in Jakobs Innenwelt – die recht gradlinige Erzählung verwandelt sich in ein Feuerwerk aus Assoziationen.

 

Ein Gefühl, dass an Angststörungen Erkrankte bisweilen beschreiben – dass sich bei Panikattacken Seele und Körper voneinander zu trennen scheinen – wird verblüffend anschaulich und nachvollziehbar in Bilder übersetzt. Auch die Impressionen aus einem Technoclub, in dem sich Jakob in Klang- und Lichtwelten verliert, wirken stimmig – weitaus mehr als so manch andere Inszenierung des entgrenzten Nachtlebens, die im Kino zu erleben war.

 

Inhaltlich offener Bilderrausch

 

Hintergrund

 

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und hier einen Beitrag über den Film "Back for Good" - furioses Trash-Familiendrama-Sittenbild von Mia Spengler.

 

Dabei halten sich Nähe und Klaustrophobie die Waage; schließlich kann die anonyme und zugleich kollektive Erfahrung auf einem Dancefloor beides mit sich bringen. Ohnehin erweist es sich als Stärke des Films, dass er dem Zuschauer keine Wertung aufzwingt; ebenso wenig Entscheidungen, ob das Gezeigte auf ihn als Verheißung oder Bedrohung wirkt. Doch diese inhaltliche Offenheit hat einen Preis: Bisweilen bleibt man ratlos bis unbefriedigt zurück und wünscht sich konkretere Bezüge.

 

Die eindrücklichen Aufnahmen sind mit eher schwache Dialoge versehen, die wenig Erhellendes beitragen. Jakobs und Kristjans Gespräche, etwa über Kunst als Manifestation der menschlichen Seele, wirken prätentiös und oft klischeelastig. Trotz des Bilderrausches auf der visuellen Ebene – das 15-minütige Albtraum-Finale wäre eines David Lynch würdig – ist man gut beraten, sich nicht mitreißen zu lassen, sondern auch versteckten Hinweisen konzentriert zu folgen.

 

Katharsis mit Nietzsche-Zitat

 

Andernfalls fiele es bald schwer, das Geschehen einzuordnen, da Realität und Fiktion zunehmend verschmelzen. Dem Film voran gestellt ist ein Zitat aus Friedrich Nietzsches größtem Bucherfolg „Also sprach Zarathustra“: „Ich sage euch: Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: Ihr habt noch Chaos in euch“. In diesem Prolog steckt trotz aller Abgründe, die die Hauptfigur Jakob durchlebt, auch ein Versprechen: Katharsis ist möglich – das vermitteln die ambivalenten Bilder, die der Regisseur für dieses sehr persönliche Thema gefunden hat.