Wang Xiaoshuai

Bis dann, mein Sohn (So long, my son)

Yaojun Liu (Wang Jingchun) und Liyun Wang (Yong Mei) mit Freunden. Foto: © Piffl Medien
(Kinostart: 14.11.) Mehr als 30 Jahre Turbomodernisierung am Beispiel zweier Familien: Das grandiose Epochen-Panorama von Regisseur Wang Xiaoshuai führt vor, wie sich Chinas Wandel auf die Menschen auswirkt. Anschaulich, einfühlsam und präzise – ein Geniestreich.

30 Jahre Mauerfall – dazu ein Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, die SED hätte Mitte der 1980er Jahre in der DDR erfolgreich den Hyperkapitalismus eingeführt – und sei dadurch bis heute unangefochten an der Macht. Genau das ist in der Volksrepublik China passiert.

 

Info

Bis dann, mein Sohn
(So long, my son)

 

Regie: Wang Xiaoshuai,

185 MIn., China 2019;

mit: Wang Jingchun, Yong Mei , Al Liya, Xu Cheng

 

Website zum Film

 

Dass Rotchina seither eine schwindelerregende Entwicklung durchlaufen hat, ist längst ein Gemeinplatz. Was das für mittlerweile 1,4 Milliarden Chinesen konkret bedeutet, kann man sich im Rest der Welt kaum vorstellen: Trotz aller wirtschaftlicher Globalisierung bleibt der wechselseitige kulturelle Austausch gering – am ehesten findet er noch im Kino statt. Zwar sagt man vielen Sino-Spielfilmen nach, sie bildeten die rasanten Umwälzungen im Land ab, doch die chinesische Kunst der vieldeutig verklausulierten Andeutungen wird im logozentrischen Westen kaum verstanden.

 

Zwei verwandte + befreundete Paare

 

Anders in „Bis dann, mein Sohn“: Das dreistündige Epos erstreckt sich zwar über mehr als drei Jahrzehnte, so dass etliche Veränderungen in diesem Zeitraum darin vorkommen – doch sie bleiben meist im Hintergrund. Dagegen steht im Zentrum eine doppelte Familien-Saga: zwei miteinander verwandte Ehepaare, deren innige Freundschaft durch Schicksalsschläge allmählich dahinschwindet; flankiert von Nebenfiguren, deren Lebensläufe exemplarisch für Optionen und Bedrängnisse in diesen turbulenten Zeiten stehen.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Von Schwester zur Abtreibung gedrängt

 

Anfang der 1980er Jahre: Liu Yaojun (Wang Jingchun) und Wang Liyun (Yong Mei) arbeiten wie Liyuns Schwester Li Haiyan (Al Liya) und deren Ehemann Shen Yingming (Xu Cheng) in einer nordchinesischen Metallfabrik; alle leben im selben Arbeiterwohnheim. Beide Paare verbindet eine gemeinsame Vergangenheit: Während der Kulturrevolution wurden sie zu Arbeitseinsätzen auf dem Land abkommandiert. Wie es der Zufall will, bringen beide Frauen am selben Tag ein Kind zur Welt: Liyuns Sohn heißt Xing, der von Haiyan wird Hao genannt.

 

Als Liyun 1986 erneut schwanger wird, was aufgrund der seit 1979 geltenden „Ein-Kind-Politik“ mit hohen Geldstrafen geahndet wird, endet die Gleichheit. Haiyan ist leitende Angestellte des Betriebs und für die Rechtstreue ihrer Kollegen verantwortlich; andernfalls drohen ihr Sanktionen. Also drängt sie ihre Schwester zu einer Abtreibung, die missglückt: Liyun wird künftig keine Kinder mehr bekommen können.

 

Umzug gegen Schmach + Schande

 

Mitte der 1990er Jahre sucht Yaojun und Liyun ein weiteres Unglück heim: Beim Spielen im Wasser eines Stausees ertrinkt Xing – daran ist der gleichaltrige Hao nicht unbeteiligt. Zudem wird Liyun Opfer einer Entlassungswelle in ihrem Kombinat. Um Schmach und Schande zu entgehen, zieht das Paar fort an die Küste der südchinesischen Provinz Fujian und adoptiert einen Jungen, den sie ebenfalls Xing nennen. Ihr Kontakt zu Haiyan und Yingming reißt ab.

 

Anfang der 2000er Jahre repariert Yaojun Boote in seiner eigenen Werkstatt; Liyun arbeitet als Netzflickerin. Wegen Schulproblemen zerstreitet sich Xing mit seinen Adoptiveltern, verlässt sie und schließt sich einer Bande von Halbstarken an. Dagegen kommt Yingmings jüngere Schwester Shen Moli nach Fujian und beginnt eine Affäre mit Yaojun, ihrem früheren Vorgesetzten in der Metallfabrik – die sie abbricht, weil ihr ein Studium in den USA winkt.

 

Zeitebene durch Handys erkennen

 

Auf der jüngsten Zeitebene um 2011 besuchen Yaojun und Liyun ihre frühere Heimatstadt und treffen ihre alten Freunde wieder: Yingming ist ein neureicher Bauunternehmer, doch seine Gattin Haiyan todkrank – ihren nicht behandelbaren Hirntumor diagnostiziert ihr eigener Sohn Hao, der als Klinikarzt arbeitet. Liyun kommt noch rechtzeitig an ihr Sterbebett.

 

Diese miteinander verstrickten Biographien erzählt Regisseur Wang Xiaoshuai als kunstvoll verschachteltes Kaleidoskop, das zwischen den Jahrzehnten hin und her wechselt; am ehesten ist die jeweilige Phase an den verwendeten Mobiltelefon-Modellen zu erkennen. Was nicht verwirrt, da jede Szene zugleich für sich stehen kann: Sie beleuchtet schlaglichtartig ein Phänomen, das in diesem Zeitraum das Leben der Menschen beeinflusst und prägt.

 

Jahrelange Haft nach Pop-Party

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Parasite" - gallige Sozialsatire aus Südkorea von Bong Joon-ho, prämiert mit Goldener Palme 2019

 

und hier einen Bericht über den Film "Shoplifters - Familienbande" - Porträt einer japanischen Prekariats-Familie von Hirokazu Kore-Eda, Gewinner der Goldenen Palme 2018

 

und hier einen Beitrag über den Film "Asche ist reines Weiß" - komplexe Mafia-Beziehungsstudie aus China von Jia Zhang-ke

 

und hier eine Besprechung des Films "Feuerwerk am helllichten Tage – Black Coal, Thin Ice" - brillanter Neo-Noir-Krimi in Nordchina von Diao Yinan, Berlinale-Sieger 2014.

 

Mit Leid und Freud: Zu den vergnüglichsten Momenten zählt eine improvisierte Zimmerparty im Arbeiterwohnheim. Dazu bringt der gemeinsame Kumpel Zhang Xinjian, der mit Fönfrisur, flatterndem Hemdkragen und Schlaghosen wie ein chinesischer Roy Black aussieht, einen Rekorder und Kassetten mit westlicher Popmusik mit; alle wagen ein Tänzchen.

 

Kurz darauf muss Xinjian dafür teuer bezahlen: Als Veranstalter einer illegalen „Dunkelparty“ wird er zu jahrelanger Haft verurteilt. Seine Freunde besuchen ihn im Gefängnis, bringen aber nur hilflos kalauernde Sprüche hervor, während er mit erloschenem Blick politisch korrekte Floskeln absondert – wohl die beklemmendste Szene.

 

Redeweise des Nichtaussprechens

 

Ohnehin ist der Verlauf der Gesprächsführung das Eindrucksvollste an diesem Film: Anfangs erscheinen viele Dialoge eher oberflächlich. Sobald der Zuschauer mit dem Fortgang der Handlung mehr und mehr begreift, welche verschlungene Bande aus Schuld und Scham die Akteure aneinander fesselt, versteht er auch das Ungesagte zwischen den Zeilen zusehends besser. Die Etikette des sozial Erwünschten bedingt eine Redeweise des Nichtaussprechens, in der Gefühle und Konflikte kaum ausgedrückt werden dürfen – bis sie abrupt in Übersprungshandlungen ausbrechen.

 

Derweil schreitet die Geschichte voran: Parteibeschlüsse, Propagandaparolen und Turbomodernisierung – all das kommt vor, doch nur als Grundrauschen für elementare menschliche Erfahrungen von Chancen und Hoffnungen, Verlust und Trauer. Dargeboten von einem exzellenten Schauspieler-Ensemble: Für ihre herausragenden Leistungen in den Hauptrollen erhielten Wang Jingchun und Yong Mei auf der Berlinale völlig zurecht die Silbernen Bären für die besten Darsteller. Der Film selbst hätte den Goldenen Bären verdient gehabt.