Corinna Harfouch + Tom Schilling

Lara

Lara (Corinna Harfouch) mit ihrem Sohn Viktor (Tom Schilling). Foto: Studiocanal / Frederic Batier
(Kinostart: 7.11.) One-Woman-Streifzug durch ein unerfülltes Leben: Regisseur Jan-Ole Gerster porträtiert in seinem intensiven Mutter-Sohn-Drama eine 60-Jährige, die an ihren hohen Ansprüchen scheitert – grandios verkörpert von Corinna Harfouch.

Talent kann eine Strafe sein, wenn es falsch behandelt wird. Unter dieser Prämisse steht das zweite Werk des Regisseurs Jan-Ole Gerster. Wie in seinem Debütfilm „Oh Boy“ (2012) erzählt er von genau einem Tag im Leben seiner Hauptfigur; Lara wird in einer furiosen One-Woman-Show von Corinna Harfouch dargestellt. Wie Tom Schilling, seinerzeit der Protagonist in „Oh Boy“, lässt sie sich durch Berlin treiben und sucht Orte oder Menschen auf, die sie geprägt haben. Sie raucht, trinkt, diskutiert und nähert sich Begegnung um Begegnung dem Kern ihrer eigenen Geschichte.

 

Info

 

Lara

 

Regie: Jan-Ole Gerster,

98 Min., Deutschland 2019;

mit: Corinna Harfouch, Tom Schilling, Rainer Bock

 

Website zum Film

 

Trotz dieser strukturellen Ähnlichkeit fallen gleich in der ersten Szene die Unterschiede zu dem bei aller Melancholie jazzig-gutgelaunten Vorgänger ins Auge: etwa die – wenn auch zurückgenommene – Farbe. „Oh Boy“ erinnerte in seinem artifiziellem Schwarzweiß unweigerlich an frühe Komödien Woody Allens; „Lara“ kommt dagegen naturalistischer daher. Unterstrichen wird dieser Eindruck durch die konzentrierten, oft statischen Einstellungen und den weitgehenden Verzicht auf Filmmusik.

 

Polizeieinsatz verhindert Fenstersturz

 

Frühmorgens erwacht Lara Jenkins einsam in ihrer Wohnung; zwischen Büchern, Platten, einem Klavierhocker ohne Klavier und altmodischen, etwas abgenutzten Möbeln. Sie tritt ans Fenster, durch das unscharf die Lichter der Großstadt schimmern, öffnet es und rückt den Hocker davor. Doch bevor sie auf ihn steigen kann, klingelt es an der Tür: Zwei Polizeibeamte ziehen Lara als Zeugin zu einer Wohnungsdurchsuchung in ihrem Haus hinzu, denn sie war früher Beamtin.

Offizieller Filmtrailer


 

Sohn ruft nicht zurück

 

Schnell stellt sich heraus, dass dieser Tag kein gewöhnlicher ist, sondern Laras 60. Geburtstag. Das ist wohl für viele Menschen kein leichtes Datum – für Lara erst recht nicht, hadert sie doch mit dem, was sie in ihrem Leben erreicht hat. Mittelmäßigkeit und alles Durchschnittliche sind ihr ein Graus. An sich und ihr Umfeld hat sie stets höchste Ansprüche gestellt – und das dadurch beinahe zwangsläufige Scheitern nie akzeptiert.

 

Die freundlich gemeinten Geburtstagswünsche ihres Nachbarn schmerzen noch aus einen weiteren Grund: Dieser Tag ist auch ein Höhepunkt im Leben ihres Sohnes Viktor (Tom Schilling). Doch der ruft weder an, um zu gratulieren, noch reagiert er auf ihre Anrufe, in denen sie ihm Kraft und gutes Gelingen für den Abend wünscht – verbunden mit der Bitte, sich vorher noch einmal zu treffen.

 

Reise durchs eigene Leben

 

Viktor ist Pianist und voller Selbstzweifel. Daran hatte Lara durch ihre Erziehung wohl einen erheblichen Anteil. Am Abend will er auf seinem Konzertdebüt seine erste eigene Komposition vorstellen – ein Ereignis, zu dem Lara offensichtlich nicht eingeladen ist. Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, das Konzert möge für Viktor ein Erfolg werden, und der Gewissheit, dass er nur scheitern kann, macht sich Lara auf, ein Treffen zu erzwingen.

 

Im Konzerthaus kauft sie mit ihrem Ersparten sämtliche Restkarten auf, die sie anschließend verteilt: an frühere Arbeitskolleginnen, Zufallsbekanntschaften, aber auch ihren einstigen Klavierlehrer. Im Lauf dieser Begegnungen – schließlich auch mit ihrer eigenen Mutter und Viktor – enthüllt der Film nicht nur Laras Geschichte, sondern Schicht um Schicht auch ihr Wesen. Dabei erhält die grandiose Harfouch viel Raum für mimische Ex- und Implosionen, die gleich wieder unter die Fassade gutbürgerlicher Selbstbeherrschung gekehrt werden.

 

Metaphorische Ohrfeigen

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension zum Familien-Drama "Was bleibt" - von Hans-Christian Schmid mit Corinna Harfouch

 

und hier eine Besprechung des Films "Die Besucher" - über Eltern-Kind-Konflikte von Constanze Knoche mit Corinna Harfouch

 

und hier einen Bericht über den Film "Werk ohne Autor" - Gesellschaftspanorama über fiktiven Maler mit Tom Schilling von Florian Henckel von Donnersmarck

 

Schmerz und Überheblichkeit, Anteilnahme und der innere Zwang zu schroffer, schonungsloser Kritik liegen bei Lara als explosive Mischung nah beieinander. Zu nah, um sie jemals ausgeglichen oder gar glücklich erscheinen zu lassen. Mit einem bei aller Zerrissenheit in seiner körperlichen Präsenz gereiften Tom Schilling als Laras Widerpart – und Verlängerung ihres Leidens – erzählt der Film, wie auch schon „Oh Boy“, die Geschichte von zwei Menschen, die sich nicht in die Welt fügen können.

 

Was beim Vorgänger noch jugendlich-verspielt daherkam, entfaltet nun seine volle Dramatik – auch weil hier aus einer explizit erwachsenen Perspektive erzählt wird. Angesiedelt im saturiert-bürgerlichen West-Berlin, ist das Kind in dieser Geschichte längst in den Brunnen gefallen. Die Suche nach den Ursachen führt durch die Niederungen des Gewöhnlichen vorbei an den Vorwürfen von Laras Ex-Mann hin zu Kindern, die ihre Eltern – tatsächlich oder metaphorisch – ohrfeigen.

 

Nahrung für Selbstzweifel

 

Mit talentierten Menschen gilt es wie mit rohen Eiern umzugehen. Ihre Selbstzweifel sind in der Regel so groß, dass ihr Vorankommen allein schon dadurch erschwert wird. Wenn die genährt statt zerstreut werden, landet ein Mensch vielleicht auf einem Amt statt im Konzertsaal – so wie einst Lara: Fast unweigerlich geben sie ihr eigenes Versagen weiter.