Potsdam

Van Gogh – Stillleben

Vincent van Gogh: Stillleben mit einem Teller Zwiebeln, 1889, Kröller-Müller Museum, Otterlo, Niederlande. Fotoquelle: Museum Barberini, Potsdam
Kartoffeln und Kohl anstelle von Sonnenblumen: Die Van-Gogh-Ausstellung im Museum Barberini überrascht mit unscheinbaren Sujets und altmeisterlich gemalten Frühwerken. Nur 27 Gemälde bieten einen Überblick über die gesamte künstlerische Entwicklung.

Die Enttäuschung gleich vorweg: Die berühmtesten Stillleben der Kunstgeschichte, Van Goghs „Sonnenblumen“, haben es nicht nach Potsdam geschafft. Kein Museum der Welt leiht diese Ikonen aus. Das Museum Barberini geht offensiv mit dieser Leerstelle in seiner Schau um: Im ersten Raum prangen alle sechs sonnengelben Versionen – als Reproduktionen.

 

Info

 

Van Gogh – Stillleben

 

26.10.2019 - 02.02.2020

täglich außer dienstags

10 bis 19 Uhr,

donnerstags bis 21 Uhr

im Museum Barberini, Am alten Markt, Potsdam

 

Katalog 29,95 €

 

Weitere Informationen

 

Das 2017 eröffnete Privatmuseum des SAP-Mitgründers Hasso Plattner tritt wie immer selbstbewusst auf; es hat sich als Schauplatz für Blockbuster-Ausstellungen einen Namen gemacht. Was die Staatlichen Museen zu Berlin (SMB) aus Geldmangel kaum noch können, leistet in Potsdam das Museum Barberini – und die Massen strömen dorthin.

 

Weißer Fleck im Van-Gogh-Universum

 

Diesmal also zu Van Gogh: Die Besucher drängen sich vor nur 27 kleinformatigen Gemälden. Jeder will sie sehen, als hätte man den berühmtesten Künstler der Moderne nicht oft genug vor Augen gehabt, sei es im Original oder als Kopie. Gibt es da wirklich noch Neues zu entdecken? Tatsächlich haben die Kuratoren einen weißen Fleck im Van-Gogh-Universum ausmacht: Noch nie wurden allein die Stillleben des 1853 geborenen Malers gezeigt.

Impressionen der Ausstellung


 

Leihgaben meist aus Otterloo

 

Hier stammen die meisten aus dem Kröller-Müller-Museum im niederländischen Otterlo; es verfügt über die zweitgrößte Van-Gogh Sammlung weltweit. Tatsächlich ist die thematische Eingrenzung sinnvoll: Mehr als 170 Stillleben hat Van Gogh in einem Schaffens-Jahrzehnt angefertigt; sie bilden ein Fünftel seines Gesamtwerks. Auf diese Fülle greift die Schau allerdings sparsam zu. Pro Wand ein Bild, maximal zwei: Luftiger lässt sich eine Ausstellung kaum hängen.

 

27 Exponate müssen als chronologische Wegmarken des Werks reichen. Das ist ungewohnt, ächzen doch viele Retrospektiven mittlerweile unter Überfülle, die nicht immer mit mehr Erkenntnisgewinn oder Genuss einhergeht. In Potsdam herrscht also visuelle Diät; das schärft den Blick. Man ist gezwungen, sich auf Weniges zu konzentrieren, was am Anfang des Rundgangs eher magere Kost bietet.

 

Vogelnester + Schnapsflaschen

 

Der von seinem Bruder Theo finanzierte Berufsanfänger, der im Selbststudium hart um Fortschritte rang, litt unter chronischer Finanznot. Da lag es nahe, sich ein paar erdige Kartoffeln, Äpfel oder Kohlköpfe als Modelle aus dem Keller zu holen. Die Nummer Eins in seinem Werkverzeichnis ist ein brauntoniges Obst- und Gemüsestück – noch etwas ungelenk, aber sorgfältig gepinselt. Alte Meister wie Frans Hals und Rembrandt lassen grüßen.

 

Im ersten Raum ist von seiner späteren Berufung zum Avantgardisten noch wenig zu spüren. Naturverliebt sammelte Van Gogh auf langen Spaziergängen Vogelnester, stapelte sie im Atelier und malte sie im Dämmerlicht, liebevoll Halm für Halm. Ein Träumer mit Blick fürs Alltägliche. Kürbisse, Apfelhaufen, leere Schnapsflaschen aus Steingut: Van Gogh lernte Rundungen mit Licht und Schatten zu formen und erprobte zahllose Braunnuancen. Doch wer sollte diese altmodischen Gemälde kaufen?

 

Wandfarben als Seelenspiegel

 

Die Phase der dunkeltonigen Frühwerke ist in Potsdam reich vertreten, da sie für van Goghs Entwicklung wichtig war. Das lichtarme Kolorit dieser Gemälde macht die Strahlkraft der Wände in leuchtendem Sonnen(blumen)gelb wett. In den folgenden Räumen trübt sich die Wandfarbe peu à peu ein: erst ins lichte, dann ins düsterere Grau. Die sich wandelnde Atmosphäre ist, abgesehenen von wenigen Text-Hinweisen, der einzige Hinweis auf die problematische Psyche und dramatische Biografie Van Goghs. Bevor die Spätwerke seiner letzten Lebensmonaten ihre Strahlkraft entfalten dürfen, steht die entscheidende Pariser Phase an. Sie lässt Blumen blühen.

 

Im Sommer 1886 trifft Van Gogh in der französischen Hauptstadt ein. Malt er anfangs noch Räucherfische vor dunklem Fond, hört er bald auf, Lichtreflexe und Schatten auszutarieren. Nun wendet er sich Blumenstillleben zu: Wer sie mag, kann in einem Raum voller üppiger, duftiger Bouquets schwelgen. Pfingstrosen malte Van Gogh à la Edouard Manet; er hoffte, an dessen kommerziellen Erfolg anzuschließen.

 

Dynamisch rollende Früchte

 

Vergebens: Die Pariser Avantgarde hatte bereits selbst die Kaffeehäuser erreicht, wie ein postimpressionistisch getüpfeltes Restaurant-Interieur belegt. Van Gogh experimentiert: Bei abgemalten Sträußen wagt er immer heftigere Farbkontraste – Gladiolen, Mohn, Kornblumen, Astern oder Flieder. So dekorativ diese Stillleben auch wirken: Mit ihnen gelang dem Maler sein Durchbruch zur freien Farbigkeit – und damit zum eigenen Stil.

 

Van Goghs weltberühmter, unverwechselbarer Stil findet sich erst in der zweiten Hälfte der Ausstellung. Hier vibrieren die Pinselstriche, die Bildräume geraten in Bewegung.  Jedes dieser Gemälde ist ein Ereignis: „Trauben, Zitronen, Birnen und Äpfel“ geraten durch seine dynamische Malweise ins Rollen. Im südfranzösischen Arles gereifte Zitronen leuchten intensiv.

 

Schuhe in der Psychiatrie gemalt

 

Dass diese Farbexplosionen oft auch symbolische Bedeutungen transportieren, wird leicht übersehen. Obwohl es vor Augen steht: Van Gogh stapelt Liebesromane ins Bild, legt eine Rose daneben und rückt – als reiche das nicht – noch eine weiblichen Aktstatuette dazu: ein Stillleben als poetische Liebeserklärung an wen auch immer. Seine krisenhafte Lebenslage hält er auf einem Bild fest, das lauter persönlichen Kleinkram von der Tabakspfeife bis zum medizinischen Ratgeber versammelt. Oder in einer Version des mehrfach gemalten Schuhmotivs; sie schuf Van Gogh in der Nervenheilanstalt von Saint-Rémy, in die der Künstler sich selbst einwies.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "1912 – Mission Moderne: Die Jahrhundertschau des Sonderbundes" - mit 14 Gemälden von Van Gogh im Wallraf-Richartz-Museum, Köln

 

und hier eine Besprechung des Films "Van Gogh – An der Schwelle zur Ewigkeit" - brillantes Biopic von Julian Schnabel

 

und hier einen Bericht über den Film "Loving Vincent"- brillanter Animationsfilm im Van-Gogh-Stil von Dorota Kobiela + Hugh Welchman

 

Vom ersten Werk bis zum allerletzten Schaffensmonat spannt sich der Bogen: Den Schlussraum des Schau dominiert mühelos ein einziges Gemälde, die „Blühenden Kastanienzweige“ von Ende Mai 1890. Das kaum einen Meter breite Gemälde versprüht puren Optimismus in jedem einzelnen Pinselstrich: Vehement und schnell, aber zugleich völlig kontrolliert wurden die kräftigen Farbspuren auf die Leinwand gebracht.

 

Unterbewertetes Genre

 

Dass Van Gogh der Stilllebenmalerei ausgiebig frönte, ist kein Wunder: Das inhaltlich anspruchslose Sujet galt im 19. Jahrhundert als ideales Studiengebiet für Anfänger und malerische Experimente. In der akademischen Hierarchie der Bildthemen rangierten Stillleben ganz unten; diese abschätzige Sicht auf das Genre prägt die Wahrnehmung bis heute.

 

Eine paar verschrumpelte Räucherfische, ein Korb reifer Zitronen, ein Blumenstrauß: na und? Viele finden die Stilllebenmalerei langweilig. Wer sich auf die hier versammelten Werke einlässt, macht eine andere Erfahrung: Unscheinbare Dinge erzählen von persönlichen Erinnerungen, laden sich mit Emotionen auf und werden durch den suggestiven Zugriff des Künstlers belebt. Diese 27 Bilder veranschaulichen Van Goghs gesamte malerische Entwicklung.