Einmal sagt Merce Cunningham (1919-2009) in diesem Film, vielleicht sei der Tanz nicht die größte unter den Künsten. Dafür gebe es zu viele geschundene Füße und sonstige Wehwehchen. Wenn aber alles gelinge, ergäben sich Momente, die bewegen und mitreißen, so der US-Choreograf. Was nötig ist, damit das funktioniert, zeigt Alla Kovgans Dokumentation in 3D – ähnlich eindrucksvoll wie 2011 im Film von Wim Wenders über Pina Bausch.
Info
Cunningham
Regie: Alla Kovgan,
93 Min., USA/ Deutschland/ Frankreich 2019;
mit: Merce Cunningham, Andy Warhol, John Cage
Zum Wesen des Tanzes vordringen
Sein Material ist dabei zunächst der eigene Körper. In den 1940er Jahren in New York sieht sich Cunningham in erster Linie als Tänzer. Kritiker werfen ihm schon damals vor, sein immenses Talent mit Experimenten zu vergeuden; er will dagegen zum Wesen des Tanzes vordringen. Aus dem Ballett übernimmt er dabei vor allem die Bein-, aus dem Modern Dance die Oberkörperarbeit. Für Cunningham ist jede Bewegung, vom Stillstand bis zur schnellsten Beschleunigung, ein Teil von Tanz. Dieser ist für ihn eine Kunstform an sich, nicht Interpretation einer Handlung oder Begleitung von Musik.
Offizieller Filmtrailer
Erste Klasse mit einer Schülerin
Schritt für Schritt bezieht er andere Künstler und weitere Tänzer in die Entfaltung seines Programms ein. Als erstes ist der Komponist John Cage zu nennen, mit dem er schon gemeinsam in Seattle studiert hatte; der Film erwähnt nebenbei, dass beide Männer eine Liebesbeziehung verband. Zu Cages Werken entstehen ab 1942 Cunninghams erste eigenen Choreographien: Musik und Tanz stehen hier gleichberechtigt nebeneinander. Verbunden werden sie durch die Gleichzeitigkeit ihrer Aufführung.
Zur gleichen Zeit beginnt Cunningham zu unterrichten; dabei betont Regisseurin Kovgan immer wieder, wie solitär die Position des Künstlers ist. So nimmt an seiner ersten Klasse nur eine Schülerin teil, was für Cunningham jedoch kein Grund ist, den Kurs ausfallen zu lassen oder nicht ernst zu nehmen.
Auf Hochhaus-Dächern tanzen
Indem der Film historische Dokumente und heutige Nachinszenierungen miteinander verschränkt, die auf beeindruckende Weise – etwa bei einer aus der Luft gefilmten Inszenierung auf Hochhausdächern der New Yorker City – Räume und Landschaften mit einbeziehen, werden Cunninghams Neuerungen erfahrbar: Seine Experimente zu Tanz und Choreographie gehen über erweiterte Anforderungen an die Fähigkeiten der Tänzer weit hinaus.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Nurejew - The White Crow" - virtuoses + spannendes Biopic über den Tänzer Rudolf Nurejew von und mit Ralph Fiennes
und hier eine Besprechung des Films "Yuli" - mitreißendes Biopic über den kubanischen Tänzer Carlos Acosta von Icíar Bollaín
und hier einen Bericht über den Film "Feuer bewahren - nicht Asche anbeten" - gelungene Tanz-Doku über den Choreographen Martin Schläpfer von Annette von Wangenheim
und hier einen Beitrag über den Film "Wüstentänzer" - intensives Drama um eine geheime Tanzgruppe im Iran von Richard Raymond.
25 Dollar Gage pro Auftritt
Erste größere Erfolge feiert die Company im Rahmen einer sechsmonatigen Welttournee Anfang der 1960er Jahre im Ausland. In London gastiert sie für längere Zeit und wird vom Publikum für ihr Gesamtkunstwerk aus Tanz, Musik, Kostümen und Malerei gebührend gefeiert.
Cunningham verfolgte seine künstlerische Vision mit unbeugsamem Willen – doch der Film zeigt auch, auf welcher schmalen finanziellen Basis sein Unternehmen jahrelang beruhte. Mehr als Kost und Logis plus etwa 25 Dollar Gage pro Auftritt waren für die Beteiligten bis zum Durchbruch in London selten drin. Zudem wird deutlich, welche geringen Mitspracherechte sie unter dem Regiment des genialen Patriarchen besaßen – einer der Gründe, warum bis 1972 alle Gründungsmitglieder die Company verlassen hatten.
Nach der Welttournee baute Cunningham in New York seine Company neu auf. Mit diesem Schritt, der ihn endgültig zu einem der einflussreichsten Ensemble-Choreografen des 20. Jahrhunderts machte, endet der Film – mit atemberaubenden Tanzszenen in den Kulissen seines neuen Kooperations-Partners Andy Warhol.