Saudade ist ein Begriff, auf den die portugiesischsprachige Welt ausgesprochen stolz ist. Es gibt keine einfache Übersetzung für dieses Wort; gemeint ist die kleine, leise Traurigkeit, die Menschen angesichts des Verlustes eines früheren Glücks überkommen kann. Eine Mischung aus Melancholie, Sehnsucht und Nostalgie, die bei aller Schwere auch etwas Tröstliches hat.
Info
Die Sehnsucht der Schwestern Gusmao
Regie: Karim Aïnouz,
145 Min., Brasilien/ Deutschland 2019;
mit: Julia Stockler, Carol Duarte, Flávia Gusmão, António Fonseca
Unerhörte Rufe
Schon die erste Szene zeigt, worauf alles hinauslaufen wird. Die beiden Schwestern Eurídice (Carol Duarte) und Guida (Julia Stockler) verlieren sich auf dem Rückweg vom Strand im Dschungel. „Eurídice“ ruft Guida mit zunehmender Angst durch das dichte Grün. Ein Ruf, der noch Jahrzehnte lang durch ihre Briefe an die geliebte Schwester hallen wird; die bleiben aber unbeantwortet.
Offizieller Filmtrailer
Bezugspunkt trotz Trennung
Auslöser der Trennung ist ein griechischer Seemann, mit dem die lebenslustige Guida durchbrennt. Als sie Monate später ohne Mann, dafür aber mit einem dicken Bauch wiederkehrt, hat sich Eurídice bereits in eine Ehe mit Antenor (Gregorio Duvivier) gefügt; ihre Eltern haben diesen Langweiler für sie ausgesucht. Er beäugt etwa die Leidenschaft seiner Frau für das Klavierspiel misstrauisch. Trotzdem verfolgt Eurídice hartnäckig ihren Traum, sich am Wiener Konservatorium als Pianistin zu bewerben.
Manuel (António Fonseca), der herrische Vater der Schwestern, will um jeden Preis verhindern, dass der rebellische Geist von Guida die folgsame Eurídice ansteckt. Lügen, Sturheit, Angst und Zufälle verhindern ein ums andere Mal ein Wiedersehen der Schwestern. Trotz der physischen Trennung bleiben sie füreinander stets ein innerer Fixpunkt.
Klägliche Männer, freudloser Sex
Der brasilianische Regisseur Aïnouz, der nach eigenem Bekunden in einer Familie mit starken Frauen aufwuchs, erzählt von einer Zeit, in der Frauen ohne Männer als defizitäre Wesen galten – ein Zustand, der in weiten Teilen der Welt noch immer Normalität ist. Seine Sympathie gilt den Heldinnen des Alltags, die sich gegen die Grenzen behaupten, die ihnen gesetzt werden. Und dabei noch Kinder, Haushalt und Finanzen wuppen.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der Sommer mit Mamã - Que horas ela volta?" - gallig-turbulente brasilianische Sozial-Komödie von Anna Muylaert
und hier einen Bericht über den Film "Paulista" - über Liebesglück und -leid von Großstädtern in São Paulo von Roberto Moreira
und hier einen Beitrag über den Film "Kathedralen der Kultur" - Episodenfilm mit einem Beitrag von Karim Aïnouz
Leuchtende Tropen
Diese traurig-schöne Geschichte um ungenutzte Chancen und das Leben, das man so letztendlich verpasst, wird geradezu klassisch dargestellt. Der Film nimmt sich Zeit für die differenzierte Zeichnung seiner hervorragend besetzten Haupt- und Nebenfiguren; die Spannung baut sich langsam auf. Dabei ist Atmosphäre mindestens ebenso wichtig wie das, was passiert. Das Rio de Janeiro der 1950er Jahre fungiert als imaginärer Sehnsuchtsort.
Obwohl die Handlung größtenteils in Innenräumen spielt, ist der Schauplatz unverkennbar tropisch. Kamerafrau Hélène Louvart bedient sich warmer Primärfarben: Blau-, Rot- und Grüntöne bringen die Leinwand förmlich zum Leuchten. Präzise setzt sie punktuell Unschärfen, die ihre erzählerische Entsprechung in den blinden Flecken der Protagonisten haben. Dass die Naheliegendes meist übersehen, wirkt auf alltägliche Weise tragisch.
Süßer Schmerz des Fado
Das exquisit inszenierte Melodram verfehlt seine kathartische Wirkung auf den Zuschauer nicht. Spätestens, wenn im Abspann Amália Rodrigues, die Grande Dame des Fado, vom seltsamen Leben singt, das ein unabhängiges Herz mit sich bringt, zerreißt es den Zuhörer in süßem Schmerz.