München

Die Fäden der Moderne: Matisse, Picasso, Miró … und die französischen Gobelins

Pierre-Henri Ducos de la Haille: Der Mekong, 1935-1937 (Detail), 288 × 342 cm, Wolle, Seide; © Pierre-Henri Ducos de la Haille. Fotoquelle: © Kunsthalle München
Die ganze Welt als Wandbehang: In Frankreich wird die Kunst der Tapisserie auf höchstem Niveau gepflegt. Dafür lieferten berühmte Avantgardisten des 20. Jahrhunderts herausragende Entwürfe – die Kunsthalle präsentiert rund 70 beeindruckende Beispiele.

Gewebt oder geknüpft? Geschüttelt oder gerührt? „Gewirkt“ sagen Fachleute, wenn sie von der so genannten Tapisserie sprechen. Hierzulande genießt diese Kunstform keinen ansprechenden Ruf: Sie gilt als altbackene, verblichene Repräsentationskunst, die in Schlössern verstaubt.

 

Info

 

Die Fäden der Moderne: Matisse, Picasso, Miró ... und die französischen Gobelins

 

06.12.2019 - 08.03.2020

täglich 10 bis 20 Uhr

in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, Theatinerstrasse 8, München

 

Katalog 29 €

 

Weitere Informationen

 

Völlig anders sehen die rund 70 farbstarken Großformate aus, welche die Münchener Kunsthalle erstmals aus Frankreich nach Deutschland geholt hat. Sie tragen die Signaturen von Künstlern wie Picasso, Sonia Delaunay oder Eduardo Chillida, allesamt Protagonisten der Avantgarde ihrer Zeit. Und sie atmen ein gewisses exklusives Flair: Viele der Exponate hängen normalerweise in offiziellen Amtsitzen französischer Politiker.

 

Manufaktur 1607 gegründet

 

Tatsächlich erfreut sich die Kunst der Gobelin-Herstellung in Frankreich bis heute höchster Wertschätzung – und staatlicher Förderung. Fast alle ausgestellten Stücke entstanden in der „Manufacture nationale des Gobelins“ in Paris oder der Tapisserie-Manufaktur von Beauvais. Seit dem 17. Jahrhundert beliefern sie die Amtssitze der politischen Elite Frankreichs mit noblen Wand- und Bodenteppichen.

Feature über die Ausstellung: © Kunsthalle München


 

Papiercollage von Picasso

 

Prunkstück der Ausstellung ist Picassos mehr als vier Meter breiter Gobelin „Frauen bei ihrer Toilette“ aus der französischen Botschaft in Madrid. Das Monumentalformat prangt im Hauptsaal zwischen Meisterwerken von Le Corbusier, Alexander Calder, Joan Miró und Fernand Léger. Die meisten namhaften Avantgardisten des 20. Jahrhunderts in Frankreich haben den staatlichen Manufakturen Entwürfe geliefert.

 

Picasso allerdings ließ sich in den 1960er Jahren von De Gaulles Kulturminister André Malraux lange bitten, bevor er zusagte. Als Vorlage lieferte er eine Papiercollage aus bedruckten und bemalten Schnipseln. Dies am Gobelin-Webstuhl minutiös in ein Gefüge aus feinen farbigen Wollfäden umzusetzen, war eine technische Herausforderung. Ist das Resultat gehobener Kitsch oder ein intelligentes Spiel? Tatsächlich verleiht die Spannung zwischen künstlerischem Entwurf und handwerklicher Ausführung vielen Stücken ihren besonderen Reiz.

 

Bunter Kunststile-Teppich

 

Der Name „Gobelin“ geht auf eine alteingesessene Pariser Färberfamilie zurück. Unter dem Sonnenkönig Ludwig XIV. stieg der Staat als Investor ein. Sein Finanzminister Jean-Baptiste Colbert wollte die heimische Luxusgüter-Produktion ankurbeln und Frankreich von teuren Importen aus Flandern unabhängig machen. Der Plan ging auf, die Tapisseriekunst nahm enormen Aufschwung. Schon damals kamen die Entwürfe von namhaften Künstlern.

 

In die Geschichte dieser Kunst schaltet sich die Ausstellung aber erst im 20 Jahrhundert ein: Schließlich geht es hier um „Die Fäden der Moderne“. Tatsächlich verweben sich die verschiedenen Strömungen im locker chronologischen Parcours zu einem bunten Teppich der Kunststile in den vergangenen hundert Jahren: ein Schnelldurchlauf im langsamen Medium der Wandbehang-Herstellung.

 

Kriegs-Luftaufnahmen als Teppich

 

Noch traditionsverhaftet zeigen sich die Manufakturen zu Beginn. Mitten im Ersten Weltkrieg bietet Louis Anquetins allegorischer Schinken „Die Mobilmachung“ militärischen Pomp und Pathos auf: mit handgeschmiedetem Eisen, barbusigen Allegorien und einem gallischen Hahn, der siegesgewiss kräht. Stilistisch stand Peter Paul Rubens Pate, der ebenfalls barocke Bildteppiche entwarf. Als Kontrast hängt ein aktueller Gobelin daneben: Michel Aubry hat für „H.W.K“ historische Luftaufnahmen eines im Krieg schwer umkämpften Berges im Elsass ausgewertet. Die blutrote Kernzone zieht sich wie ein Riss durch die kriegszerstörte Landschaft.

 

Der erste Künstler, der Fotografie als Hilfsmittel für Tapisserie-Entwürfe einsetzte, war der betagte Henri Matisse: 1947 retuschierte er ein Schwarzweiß-Dia seines Gemälde „Die Lautenspielerin“. Er vereinfachte die Hintergrund-Ornamentik, fügte eine locker fließende Randbordüre hinzu – fertig war sein Beitrag: dekorativ und entschieden modernistisch in knalligen Farben und frei improvisierter Linienführung.

 

Tür auf für neue Tapisserie-Ära

 

Weniger berühmt, aber eine Schlüsselfigur der modernen Tapisserie war der 1892 geborene Jean Lurçat. Ende der 1930er Jahre beschritt er neue Wege. Statt immer nur die Ästhetik der Ölmalerei zu imitieren, forderte er mehr Material-Gerechtigkeit, angeregt von mittelalterlichen Wandteppichen: Schluss mit zu vielen Farbnuancen und illusionistischen Bildräumen. Tatsächlich öffnen sich auf seinem Gobelin „Frühling“ pflanzenumrankte Türen nicht nur für eine andere Jahreszeit, sondern auch für eine neue Ära der Tapisserie-Gestaltung.

 

Wenig später marschierten 1940 die deutschen Besatzer auch in die Gobelin-Manufaktur ein. Nazi-Größen wie Außenminister Joachim von Ribbentrop und Reichsmarschall Hermann Göring ließen kiloweise Gold aus Deutschland heranschaffen, um dort ihre pompös-eisigen Siegesallegorien mit Goldfäden weben zu lassen. Das Kriegsende verhinderte die Vollendung des gigantischen Gobelins „Die Erdkugel“ für Görings Residenz Carinhall.

 

Le Corbusier wählt Hufschmied

 

Eine gänzlich andere Vision von zeitgemäßem Raumschmuck hatte der Architekt Le Corbusier. Er sah in der Tapisserie die ideale Kunstform für seine schnörkellose Betonarchitektur und nannte sie „mural nomad“, nomadisches Wandbild. Drei nach seinen Entwürfen gefertigte Tapisserien sind ausgestellt: Warum der Verfechter einer autogerechten Stadt allerdings ausgerechnet „Frau und Hufschmied“ als Motiv wählte, bleibt sein Geheimnis.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Inspiration Matisse" - prägnanter Vergleich von Henri Matisse + seinen Schülern in der Kunsthalle, Mannheim

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Picasso - Das späte Werk" - große Werkschau im Museum Barberini, Potsdam

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "El Anatsui - Triumphant Scale" - faszinierend schillernde Wandteppiche aus Recycling-Material im Haus der Kunst, München

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Poesie der Großstadt - Die Affichisten" - prägnante Themenschau mit Werken von Raymond Hains in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt.

 

Bei vielen Werken ist der Einfluss Picassos unübersehbar. Sein spanischer Landsmann Joan Miró ist mit einem Bodenteppich vertreten, auf dem knallbunte Phantasiewesen wie Mikroben unterm Mikroskop oder Satelliten im All schweben. Im nächsten Raum hat die geometrische Abstraktion ihren Auftritt. Bei Sonia Delaunay und Victor Vasarely flimmert es nur so vor optischen Effekten.

 

 Gewebte abstrakte Pinselschwünge

 

Auch die abstrakt gestischen „Informel“-Pinselschwünge der 1950/60er Jahre lassen sich, man glaubt es kaum, in Gobelins umsetzen. Erst aus der Nähe entpuppen sich scheinbar breit hingestrichene schwarze Farbschlieren auf Hans Hartungs Großformat „P 1967–109“ als minutiöse Fadenarbeit. Um flexibler auf unkonventionelle Künstler-Ideen eingehen zu können, richtete das „Mobiliér National“, das für die Einrichtung hochrangiger staatlicher Stellen zuständig ist, in den 1970er Jahren ein Experimentierlabor ein.

 

Hier wurden neue Webtechniken getestet. So forderte etwa die abstrakte Bildhauerin Alicia Penalba die Gobelin-Werkstätten mit raumgreifenden Entwürfen heraus. Doch solche Vorstöße in die dritte Dimension des Textilen blieben die Ausnahme. Das Kerngeschäft der Tapisserie bleibt bis heute die bildliche Darstellung. Und das bedeutet mittlerweile natürlich auch: Digitale Ressourcen werden angezapft.

 

Computer-Menüleiste als Bordüre

 

Der Künstler Raymond Hains, der als Affichist in den 1970er Jahren Pariser Plakatwände abriss und in Kunstwerke verwandelte, collagierte 2004 den Entwurf für sein „Diptyque D´Eustache à Natacha“ aus Online-Vorlagen. Anstelle einer klassischen Gobelin-Bordüre rahmen seinen Bildteppich die typischen Menüleisten eines Computerbildschirms, auf dem einander überlappende „Fenster“ fotorealistisch aufklappen. Die Bilderflut des World Wide Web steht still: eingewebt ins textile Langzeitmedium der Tapisserie.