Vorwärts in die Vergangenheit: Der überbordenden Groteske „Die feine Gesellschaft“ (2016) über Kannibalismus in der Belle Époque ließ Regisseur Bruno Dumont 2017 „Jeannette – Die Kindheit der Jeanne d’Arc“ folgen – ein schräges Musical über die erwachende Religiosität der französischen Nationalheldin. Nun setzt er in seinem neuen Werk auf heiligen Ernst: von der Passionsgeschichte der Johanna von Orleans über die stark stilisierte Inszenierung bis zum politischem Bezug des Themas auf die Gegenwart.
Info
Jeanne d'Arc
Regie: Bruno Dumont,
138 Min., Frankreich 2019;
mit: Lise Leplat Prudhomme, Jean-François Causeret, Daniel Dienne
Episches Theater im Kino
Auch in „Jeanne d’Arc“ macht Dumont keine Kompromisse mit Sehgewohnheiten und Erwartungen. Bei vielen Szenen wähnt man sich in der Kinofassung eines epischen Theaterstücks. Die Kamera bleibt meist statisch oder folgt den Charakteren in ruhigen Bewegungen und wahrt Distanz. Oder sie schwelgt in Aufnahmen von Wolkenformationen und der erhabenen Geometrie gotischer Architektur.
Offizieller Filmtrailer OmU
Leben unter Zeremonien-Zwang
Bereits die erste Szene zeigt, wie Jeanne ihre Mission, Frankreich von englischen Truppen zu befreien, auf ganz eigenartige Art wichtig nimmt. Sie verweigert sich der Bitte einer jungen Frau, ihren Rosenkranz zu berühren, damit er „gut wird“ und so zur Heilung eines kranken Jungen beitragen kann. Stattdessen fordert Jeanne die Frau auf, sie zum Kranken zu führen, um dort gemeinsam für ihn zu beten. Taten anstelle von Hokuspokus – so könnte ihr Programm lauten.
Von nun an scheint jedoch ihr gesamtes Leben in Zeremonien festzustecken. Die Lagebesprechungen mit Militärs und kirchlichen Würdenträgern in einer nordfranzösischen Dünenlandschaft wirken im Wortsinn festgefahren. Sie bestehen einerseits aus Wegen im Sand, die alle Akteure in Rüstungen und Roben häufig nur schwankend bewältigen. Die übrige Zeit füllen artifizielle Dialoge und überzeichnete Mimik aus.
Kampf um Sprechweise
Während ihre Gesprächspartner sich in Floskeln ergehen, beharrt Jeanne in kindlichem Trotz auf der Unbedingtheit ihrer Standpunkte. Ihr wird vorgeworfen, auf ihre Weise könne man nicht mit Soldaten sprechen, denn sie kenne das Leben nicht. Darauf entgegnet sie, wenn sie sprechen müsste, wie es von ihr erwartet werde, um Frankreich zu retten, wolle sie Frankreich nicht gerettet sehen.
Als das Schlachtenglück sie verlassen hat, fallen ihre Verbündeten einer nach dem anderen von ihr ab. Den von ihr als verräterisch empfundenen Friedensschluss ihres Königs mit den Engländern will sie nicht mittragen und zur Not allein weiterkämpfen; daraufhin wird sie festgesetzt und ihr der Prozess gemacht.
Männergesang am Atlantikwall
Hintergrund
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Neben der Überzeichnung aller beteiligten Charaktere, die in prächtigen Kulissen agieren, setzt Regisseur verschiedene Verfremdungseffekte ein. Beispielsweise werden Dialoge bisweilen durch Männergesang in hohen Tonlagen abgelöst, den Synthesizerklänge begleiten. Oder die Weltkriegs-Bunker des so genannten Atlantikwalls, die bis heute an den Stränden der Normandie stehen, werden zum Teil der Szenerie.
Clash der Blickwinkel auf Welt
Zudem bleibt der Sinn vieler Äußerungen von Klerikern, die Jeanne anklagen, ziemlich dunkel. Ihre Sprechweise changiert zwischen überbordend und formelhaft rituell, dabei trunken vor narzisstischer Selbstverliebtheit. Das kontrastiert mit dem offenen Blick von Lise Leplat Prudhomme, die erneut mit natürlichem Charisma in die Rolle der Jeanne d’Arc schlüpft.
Regisseur Dumont verlangt abermals der Geduld des Zuschauers durch seine spröde Inszenierung einiges ab. Doch er macht damit das Unbehagen beim Aufeinandertreffen inkompatibler Perspektiven auf die Welt spürbar wie kaum ein anderer im zeitgenössischen Kino.