
Im Hinterhof eines Konzertsaals sitzt eine Mutter mit ihren Kindern im Auto. Die Drei sind müde und hungrig – und stecken hier fest. Als getragene Orchestermusik durch die Fenster dringt, beginnt die Mutter zu weinen. Das könnte einfach nur eine sentimentale Szene über die kathartische Kraft von Musik in Krisenzeiten sein. Schließlich sind die Drei auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Ehemann beziehungsweise Vater.
Info
The Kindness of Strangers
Regie: Lone Scherfig,
112 Min., Dänemark/ Kanada/ Schweden 2019;
mit: Tahar Rahim, Zoe Kazan, Andrea Riseborough
Mit dem Vorschlaghammer
Vor allem möchte er eine Reflexion über Menschlichkeit in einer schlechten Welt sein. Aufgehängt wird das an der Geschichte von Clara (Zoe Kazan), die mit ihren Söhnen nach New York flüchtet und dort unerwartet Unterstützung von fremden Menschen erfährt. Leider kommt dabei nur ein vor Klischees strotzendes Großstadt-Märchen heraus, in dem versucht wird, mit dem Vorschlaghammer Rührung zu erzeugen.
Offizieller Filmtrailer
Stadtneurotiker und Archetypen
Die Szene im Auto erweist sich holperige Überleitung zur zweiten Hälfte des Films, in der sich das ganze Elend in Wohlgefallen auflöst: Die junge Familie findet Zuflucht bei aufopferungsvollen Menschen. Doch warum scheitert die Geschichte so grundlegend? Liegt es am Soundtrack mit seinen drögen Streicher-Arrangements? Sicher nicht am handwerklichen Können der dänischen Regisseurin, die mit „Italienisch für Anfänger“ (2000) ihren Durchbruch erlebte. Später bewies sie unter anderem mit der genialen schwarzen Komödie „Wilbur Wants to Kill Himself“ (2003) ihre Wandlungsfähigkeit.
Dabei enthält der Film viel versprechende Ingredienzen: New York als ewigem Sehnsuchtsort samt einer Schar von Stadtneurotikern. Dazu Protagonisten, die sich durchaus als schicksalsträchtige Archetypen eignen. Etwa die Hauptfigur Clara – auch wenn sie sich bisweilen in Selbstmitleid ergeht: „Ich bin nichts, nur eine Hausfrau“. Oder der Ex-Knacki Marc (Tahar Rahim), für den sich Clara interessiert, nachdem er unschuldig im Gefängnis saß. Toll besetzt ist auch die von Andrea Riseborough virtuos gespielte Krankenschwester Alice, die mit drei Jobs jongliert.
Stichpunktartiges Leid
Hintergrund
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So wird dem Zuschauer bald schon egal, was mit ihnen geschieht. Nun ist es angesichts des üblichen Blutdurstes im Kino zwar ein eleganter Schachzug, Gewalt nicht direkt zu zeigen, sondern von ihr zu erzählen. Doch gerade diese Geschichten sind nicht glaubwürdig: Clara rattert ihren Leidensweg stichpunktartig herunter. Zudem fehlt dabei eine Bezugnahme auf glücklichere Zeiten, die eine Fallhöhe und dadurch vielleicht so etwas wie Empathie schaffen könnten.
Dichtung statt Recherche
Das alles mindert keineswegs die Relevanz des Themas: Gewalt in der Familie ist auch hierzulande ein unterschätztes Problem. Laut Bundeskriminalamt wird alle drei Tage eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner umgebracht. Diesen oft unsichtbaren Alltagshorror in einem Film erfahrbar zu machen, wäre durchaus ein lohnenswertes Unterfangen.
Dass dies hier schief geht, liegt nicht nur an der Figurenzeichnung, sondern auch an der mangelnden Entschlossenheit der Regisseurin. Ihr visueller Fokus in langen Einstellungen auf die Stadt New York und ihre Hochhaus-Architektur droht das eigentliche Thema des Films zu verdrängen. Was den inhaltlichen Kern angeht, hätte es sicher zudem nicht geschadet, Betroffene von häuslicher Gewalt zu ihren konkreten Erfahrungen zu befragen, statt ihnen eine beliebig wirkende Opfergeschichte anzudichten.