Münster

Turner – Horror and Delight

Joseph Mallord William Turner (1775–1851): Peace – Burial at Sea, ca. 1842, Öl auf Leinwand / oil on canvas, © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019. Fotoquelle: © LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster
Meister des Lichts: Mit radikal subjektiven Landschaftsansichten wurde William Turner zum Wegbereiter des Impressionismus. Dem bedeutendsten britischen Maler des 19. Jahrhunderts widmet das LWL-Museum für Kunst und Kultur eine fulminante Werkschau.

John Mallord William Turner (1775-1851) war der bedeutendste Maler Großbritanniens im 19. Jahrhundert – wenn nicht ganz Europas. Ihn der Romantik zuzurechnen, wie es häufig geschieht, geht fehl: Mit der realen oder mythischen Vergangenheit, mit Helden- oder Sagengestalten hatte er ebenso wenig am Hut wie mit der romantischen Suche nach Idealen.

 

Info

 

Turner –
Horror and Delight

 

08.11.2019 - 26.01.2020

täglich außer montags

10 bis 18 Uhr,

freitags + am Wochenende bis 20 Uhr

im LWL-Museum für Kunst und Kultur, Domplatz 10, Münster

 

Katalog 27 €

 

Weitere Informationen

 

Stattdessen interessierten ihn gegenwärtige, sehr diesseitige Zustände, die er mit quasi naturwissenschaftlicher Präzision festhielt: Wetterphänomene aller Art – also das Zusammenspiel von Licht, Luft und Farben, die Städte und Landschaften jederzeit unterschiedlich erscheinen lassen. Sowie neue Erfindungen des industriellen Zeitalters: Turner war einer der ersten Künstler, der Eisenbahnen und Dampfschiffe malten. Nicht altmeisterlich detailliert, sondern summarisch, fast verschwommen – wie ihre Bewegung auf den Betrachter wirkt.

 

Lebenswerk mit 1600 Gemälden

 

Mit solch radikal subjektiven Momentaufnahmen wurde Turner der wichtigste Wegbereiter der Impressionisten – und dadurch mittelbar der gesamten Moderne. Sein Œuvre ist riesig. Es zählt etwa 1600 Gemälde plus Zehntausende von Aquarellen und Zeichnungen; davon ist auf dem Kontinent südlich des Ärmelkanals wenig angelangt. Denn Turner war zeit seines Lebens ein gefragter Starkünstler, dessen Werke bei seinen Landsleuten reißenden Absatz fanden; trotz aller Kritik an den Freiheiten, die er sich nahm.

Feature zur Ausstellung. © LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster


 

Claude Lorrain als Vorbild

 

Deshalb blieb der Löwenanteil im Vereinigten Königreich. Allein die Londoner Tate Gallery, die Turners Nachlass verwaltet – den er der britischen Nation vermacht hatte – und ihm dafür einen ganzen Galerieflügel widmet, verfügt über mehr als 300 Gemälde, 30.000 Arbeiten auf Papier und 280 Skizzenbücher. Aus diesem unerschöpflichen Bestand hat die Tate fast im Alleingang die Schau in Münster mit rund 80 Leihgaben bestückt; dazu kommen aus anderen Häusern 25 Werke von Turners Zeitgenossen. Man fragt sich, ob eine derart enge deutsch-britische Ausstellungs-Kooperation nach dem Brexit noch problemlos möglich sein wird.

 

Turner war ein Wunderkind, das in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs: Sein Vater arbeitete als Barbier, seine Mutter litt an psychischen Krankheiten. Dennoch konnte der Hochbegabte bereits mit 14 Jahren ab 1789 die Royal Academy of Arts besuchen – als ihr mit Abstand jüngster Student. In den Sommermonaten bereiste er ausgiebig Wales und Nordengland und feilte an seinem Stil, beeinflusst von der strahlenden Lichtführung seines Vorbilds Claude Lorrain (1600-1682); als er zum ersten Mal dessen Werke sah, rührte ihn das zu Tränen.

 

Mondlicht wie Scheinwerferkegel

 

Als 21-Jähriger präsentierte Turner in der Academy-Jahresausstellung 1796 sein erstes Ölgemälde: Das Nachtstück „Fishermen at Sea“ ist in Münster zu sehen. Flankiert durch zeitgenössische Bilder mit ähnlichen Motiven von Joseph Wright of Derby (1734-1797) oder dem Elsässer Philippe-Jacques de Loutherbourg (1740-1812), springen Turners Eigenheiten sofort ins Auge.

 

Während seine Kollegen ihre nächtlichen Landschaften effektvoll wie Theaterkulissen inszenieren, setzt Turner auf dramatische Atmosphäre. Der zwischen Wolken auftauchende Mond beleuchtet die Szene wie ein Scheinwerfer; zwei kleine Fischerboote werden von Wellenbergen emporgehoben, deren Kämme sparsam, aber prägnant mit Weiß akzentuiert sind. Man meint, die salzige Gischt zu schmecken.

 

Unermüdlicher Europa-Reisender

 

Ähnlich sein frühestes ausgestelltes Landschaftsgemälde: „Morgen bei den Coniston Fällen, Cumberland“ von 1798. Auf die Wasserfälle selbst verwendet Turner wenig Mühe; dafür reichen ihm körnige Tupfer. Stattdessen modelliert er ausgiebig die dunstigen Nebelschleier am Oberlauf des Flusses in zartesten Weißtönen, was dem ungewöhnlichen Hochformat enorme räumliche Tiefe verleiht.

 

Turner war ein unermüdlicher Reisender: Neben den britischen Inseln erkundete er – soweit es die politische Lage während der Napoleonischen Kriege erlaubte – monatelang das Festland. 1802 fuhr er erstmals in die Schweiz, ab 1819 mehrfach nach Italien und Mitteleuropa. Das dokumentiert diese Schau in gleich zwei Sälen: mit dem augenfälligen Kontrast von en route angefertigten Aquarell-Skizzen und späteren Ölgemälden, die im Atelier entstanden.

 

Staffagegestalten wie Zinnfiguren

 

Wobei es Turner mehr auf starke Eindrücke als auf naturgetreue Darstellungen ankam. Da zermalmt beim „Lawinenabgang in Graubünden“ (1810) ein monströser Felsbrocken spektakulär eine Holzhütte – dieser Anblick ist so exzentrisch, dass man bezweifeln darf, dass der Maler ihn tatsächlich gesehen hat. Nebenan ist zu besichtigen, was Turner nicht gelang: Menschen zu malen.

 

Beim Bild „Die Schlacht von Fort Rock, Aosta-Tal“ (1815) sind die Bergwände subtil in feinsten Farbabstufungen wiedergegeben – doch die auf einer Passstraße kämpfenden Soldaten wirken wie durcheinander geworfene Zinnfiguren. Auch auf seinen herrlich duftigen Aquarellen aus italienischen Städten, vor allem von Venedig und Rom, wirken kleine Staffage-Gestalten meist wie willkürlich eingestreute Abziehbildchen. Der Künstler wusste um seine Schwäche: Er hat kaum Porträts gemalt.

 

Farbwirbel lassen Raum verschwinden

 

Ihm lag vor allem an der möglichst stimmigen Wiedergabe konkreter Naturerscheinungen – ob das Ergebnis klassischen Kompositionsregeln entsprach oder nicht, war ihm ziemlich schnuppe. Das zeigt in der Schau etwa die „Südliche Landschaft mit Aquädukt und Wasserfall“, 1828 in glühenden Gelb- und Rottönen gemalt. Ihr Strahlen lässt leicht übersehen, dass der Wasserfall in der Bildmitte schlecht an dieser Stelle zu Tal stürzen kann: Für einen derart breiten Fluss ist kaum Platz neben der Allee links im Bild, die von großen Bäumen gesäumt wird.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Mr. Turner - Meister des Lichts" - hervorragendes Biopic über den Maler William Turner von Mike Leigh

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Turner – Monet – Twombly: Later Paintings" - gute Vergleichs-Schau mit Werken von William Turner in der Staatsgalerie Stuttgart

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Claude Lorrain - Die verzauberte Landschaft" - solide Retrospektive des bedeutendsten Landschafts-Maler des 17. Jahrhunderts im Städel Museum, Frankfurt am Main

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "John Constable - Maler der Natur" - große Werkschau des Zeitgenossen + Gegenspieler Turners in der Staatsgalerie Stuttgart.

 

In seinem Spätwerk ab etwa 1840 radikalisierte Turner seine Bildauffassung: Er ließ die räumlichen Dimensionen in fein abgestuften Farbschichten fast verschwinden. Beispielsweise in „Frieden – Seebegräbnis“ (1842): Zwei schwarze Schiffsrümpfe gehen nahtlos in ihre Spiegelbilder auf der Meeresoberfläche über, ebenso Lichtschein und Rauchfahnen der Schornsteine. Noch drastischer ging der Maler im selben Jahr bei „Schneesturm: Dampfschiff an der Hafenmündung“ vor: Ein schemenhafter Bootskörper wird von tobenden Farbwirbeln in Weiß und Grau gleichsam verschluckt.

 

Tendenz zum wolkig Ungefähren

 

Damalige Kritiker warfen ihm vor, er male wohl mit „Seifenlauge und Tünche“. Turner mokierte sich darüber, indem er behauptete, dieses Schiff hieße „Ariel“ wie der Luftgeist in Shakespeares letztem Stück „Der Sturm“. Überdies habe er selbst sich an seinen Mast binden lassen, um vier Stunden lang die Elementargewalt dieses Schauspiels beobachten zu können. Zwar dürfte das eine launige Legende sein, aber sie betont des Künstlers Absicht: die Wechselfälle des Wahrnehmbaren so anschaulich wie möglich auf die Leinwand zu bannen.

 

Das entsprach durchaus der damals populären Ästhetik des Erhabenen, definiert als Freude am Anblick des Schrecklichen – von „Horror and Delight“ im Ausstellungstitel – aus sicherer Distanz; schließlich handelt es sich nur um ein Bild. Allerdings tendierten Turners Abstraktionen auch zum wolkig Ungefähren: Viele späte Skizzen und Aquarelle weisen kaum mehr als beliebig wirkende Farbschlieren auf. Auch das führt diese fulminante Ausstellung äußerst eindrucksvoll vor.