Roman Polanski

Intrige (J’accuse)

Alfred Dreyfus (Louis Garrel) steht vor Gericht. Foto: Weltkino Filmverleih
(Kinostart: 6.2.) Landesverräter oder nicht? Die Dreyfus-Affäre spaltete Frankreich kurz vor 1900 in zwei Lager. Ihren Verlauf inszeniert Regisseur Roman Polanski virtuos wie einen heutigen Spionage-Thriller – anschaulicher lässt sich Geschichte kaum verfilmen.

Roman Polanskis neuer Film über die Dreyfus-Affäre erlebte seine Premiere bei den Filmfestspielen in Venedig. Zuvor wurde diskutiert, ob im #MeToo-Zeitalter der Beitrag eines Regisseurs, gegen den seit 1977 ein Verfahren in den USA wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen anhängig ist, überhaupt im Wettbewerb laufen dürfe. Er durfte: Man ließ zurecht die künstlerischen Qualitäten des Werks sprechen – es brachte Polanski den Silbernen Löwen für die beste Regie ein.

 

Info

 

Intrige (J'accuse)

 

Regie: Roman Polanski,

132 Min., Frankreich/ Italien 2019;

mit: Jean Dujardin, Louis Garrel, Emmanuelle Seigner

 

Website zum Film

 

Dass 43 Jahre alte Anschuldigungen gegen den französisch-polnischen Regie-Altmeister immer wieder hervorgekramt werden, hat in diesem Fall unmittelbar mit dem Thema des Films zu tun: „J’accuse“ („Ich klage an“), so sein Originaltitel, behandelt den bis dato größten Justizskandal der Dritten Republik. Er spaltete kurz vor 1900 ganz Frankreich. Nicht nur, weil die Affäre krasse Unzulänglichkeiten beim Militär und in der Regierung aufdeckte, sondern auch, weil in allen politischen Lagern latente Ressentiments lautstark zum Ausbruch kamen.

 

Offenkundige Parallelen

 

Natürlich ist Polanski zu intelligent, um seine eigene Vita mit dem ersten Schauprozess der europäischen Geschichte zu vermengen, über den moderne Massenmedien ausführlich berichteten. Doch die Parallelen zur Verfolgung durch die US-Justiz, die ihm seit Jahrzehnten weltweit mit Auslieferungsanträgen nachstellt, sind offenkundig – und werden deutlich ausgearbeitet.

Offizieller Filmtrailer


 

Wie bei Böcklins „Toteninsel“

 

Der Film beginnt chronologisch 1895 mit der Verurteilung von Alfred Dreyfus durch ein Kriegsgericht wegen Landesverrats. Der Generalstabsoffizier ist elsässischer Jude – und scheint allein schon deshalb prädestiniert zu sein, für das Deutsche Reich spioniert zu haben.

 

Stoisch nimmt der noch junge Hauptmann das Verdikt an; er wird sofort auf die berüchtigte Teufelsinsel vor Französisch-Guayana verbannt. Man sieht, wie er dort in seine Zelle geführt und welchen Ausblick er den Rest seines Lebens haben wird. Dann zoomt die Kamera immer weiter von der Insel weg, bis das Bild nicht zufällig an Arnold Böcklins berühmtes Gemälde „Toteninsel“ erinnert.

 

Aus Sicht des Geheimpolizei-Chefs

 

Die Weite des Ozeans wird alsbald von der Enge graubrauner Amtsstuben und überladenen Belle-Époque-Interieurs abgelöst. Im Gegensatz zu bisherigen Verfilmungen der Affäre, die sich um ein Gesellschafts-Panorama bemühten oder auf den Zeitungsartikel „J’accuse“ von Emile Zola als Wendepunkt konzentrierten, schildert „Intrige“ den Fall aus der Sicht des Mannes, dessen Engagement zur Freilassung und Rehabilitierung von Dreyfus führte.

 

Marie-Georges Piquart, großartig gespielt von Jean Dujardin, wird kurz nach dem Prozess neuer Chef der französischen Geheimpolizei; er findet sie in desolatem Zustand vor. Der Wachposten am Eingang des als Wohnhaus getarnten Hauptquartiers schläft meistens, Mitarbeiter spielen Karten, und die Aufbewahrung von Beweismitteln lässt ebenfalls zu wünschen übrig. Bald entdeckt Piquart Unstimmigkeiten im Fall Dreyfus; er wurde nur aufgrund von belastenden Schriftstücken und Handschriften-Gutachten verurteilt.

 

Geheimnis-Verrat geht weiter

 

Zudem werden weiterhin Militär-Geheimnisse an die Deutschen weitergegeben, obwohl der angebliche Verräter in Übersee verschmachtet. Piquarts Vorgesetzte in der Regierung sind über seine Funde wenig begeistert und gebieten ihm Stillschweigen. Den Befehl ignorierend, stellt er weitere Nachforschungen an, die ihn in ein Netz aus Intrigen und Korruption verstricken.

 

Dabei wird er auch persönlich angreifbar: Der Junggeselle hat eine Affäre mit einer verheirateten Frau (Emmanuelle Seigner) und ist auch sonst den schönen Dingen des Lebens zugetan, was ihn aber nicht im Willen zur Wahrheitsfindung behindert. Denn im Gegensatz zu seinen Kollegen, die sich von Ressentiments und Vorurteilen leiten lassen, ist er ein integrer Charakter.

 

Wie ein wahrer Whistleblower

 

Minutiös und historisch akkurat verfolgt Regisseur Polanski den Ablauf der Ereignisse von Piquarts Fund bis zu Dreyfus‘ Rehabilitierung. Ihm gelingt es, diese verwickelte Affäre mit diversen Wendungen und Dutzenden von Akteuren nachvollziehbar zu machen, ohne sich in Details zu verlieren. So wird das Geschehen, dass sich vorwiegend in Büros und Gerichtssälen abspielt, trotz mehr als zwei Stunden Laufzeit nie langweilig.

 

Hintergrund

 

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In atmosphärisch dichtem „Fin de Siècle“-Dekor schafft Polanski einen sehr gegenwärtig wirkenden Spionage-Thriller – mit allen Finessen des Genres wie ständiger Personenüberwachung oder akribischer Puzzlearbeit an Dokumenten. Nach heutigen Maßstäben war Piquart ein wahrer Whistleblower, der die korrupte Verwaltung der Dritten Republik ins Wanken brachte und damit heftige politische Reaktionen auslöste.

 

Öffentliche Bücherverbrennung

 

Angefangen mit Zolas offenen Brief an Frankreichs Präsidenten in der Zeitung „L’Aurore“ vom 13. Januar 1898; er machte die Dreyfus-Affäre zu einem Skandal von nationaler Tragweite. Anschließend wurde der Schriftsteller wegen Verleumdung angeklagt und floh nach England, um einer einjährigen Haftstrafe zu entgehen.

 

Dreyfus‘ Fürsprechern stellten sich Militär und konservative Kreise entgegen, die – oft antisemitisch motiviert – auf den Vorrang der Staatsräson pochten; dafür waren sie bereit, selbst Justizirrtümer in Kauf zu nehmen. Ihren Hass auf Fremde und politische Gegner veranschaulicht Polanski drastisch mit einer öffentlichen Bücherverbrennung.

 

Polanskis politischster Film

 

Während die Dreyfus-Affäre noch heute in jedem Geschichtsbuch steht, ist Piquart, der letztlich für die Rehabilitierung des Verleumdeten sorgte, nur noch wenig bekannt. Das mag unter anderem daran liegen, dass er nach einem Regierungswechsel von 1906 bis 1909 als Kriegsminister amtierte. Überdies war der wortgewaltige Autor Zola als Akteur wesentlich prominenter.

 

Mit „Intrige“ hat der 86-jährige Polanski seinen besten Film seit „Der Pianist“ (2002) gedreht –und seinen politisch am stärksten engagierten. Vielleicht darf man ihn auch als eine Art Vermächtnis betrachten: als Plädoyer für mitfühlende Menschlichkeit und gegen Vorverurteilung, Intoleranz und Hexenjagd – Themen, die im Werk des Überlebenden des Warschauer Ghettos seit seinem ersten Welterfolg „Tanz der Vampire“ (1967) stets unterschwellig anklingen.