„Was für ein Streber!“ – Kuratorin Dagmar Korbacher vom Berliner Kupferstichkabinett muss lachen. Sie attestiert Raffael eine perfekte Persönlichkeit, die schon Künstlerbiograf Giorgio Vasari in höchsten Tönen lobte: Der 1483 geborene Maler sei immer freundlich, ausgeglichen und motivierend für seine Werkstattkollegen gewesen, dazu voller Anmut, Grazie und Perfektion in seinen Bilderfindungen. Uff!
Info
Raffael in Berlin -
Die Madonnen der Gemäldegalerie
13.12.2019 - 14.06.2020
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 20 Uhr
in der Gemäldegalerie, Kulturforum, Matthäikirchplatz, Berlin
Raffael in Berlin - Meisterwerke aus dem Kupferstichkabinett
28.02.2020 - 01.06.2020
Täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 20 Uhr
im Kupferstichkabinett, Kulturforum, Matthäikirchplatz, Berlin
Warum keine Kooperation?
Vor 500 Jahren starb er an seinem 37. Geburtstag in Rom. Zu diesem Anlass rücken Museen weltweit ihre Raffael-Bestände ins Rampenlicht; auch die Staatlichen Museen zu Berlin (SMB). Sie richten drei separate Ausstellungen aus: zwei Mini-Präsentationen in der Gemäldegalerie und eine Schau mit rund 100 Grafiken im Kupferstichkabinett. Eine merkwürdige Lösung: Hätte man Raffaels Werke nicht bündeln oder mit anderen großen Häusern in Dresden oder Frankfurt kooperieren können, die gleichfalls über bedeutende Arbeiten von ihm verfügen?
Nur eine Leihgabe aus London ist angereist: die winzige, aber lebhafte „Madonna of the Pinks“ aus der National Gallery. Sie war den Berliner Museen 1827 durch die Lappen gegangen, weil König Friedrich Wilhelm III. sie zu teuer fand. Jetzt sonnt sie sich im Reigen ihrer Gefährtinnen: farblich etwas kühler und frischer durch eine jüngst durchgeführte Restaurierung.
Impressionen aus beiden Ausstellungen
Jede Geste + Gefühlsnuance zählt
Die Madonna liest. Die Madonna tätschelt. Die Madonna hebt sanft ihre Hand. Grazil neigt sie ihren Kopf und dreht sich zur Seite. Sie senkt die Augenlider; Melancholie deutet sich an. Jede Geste zählt, jede Gefühlsnuance will erspürt werden: Diese Andachtsbilder sind nicht für flotten Fastfood-Kulturgenuss im 21. Jahrhundert gedacht. Wer etwas davon haben will, muss länger verweilen. In der Gemäldegalerie reihen sich auf weinrotem Fond fünf Madonnen-Gemälde und zwei Zeichnungen in chronologischer Folge aneinander. Finde die Unterschiede – was ändert sich, was bleibt gleich?
Alle vier Berliner Raffael-Madonnen sind frühe Werke; sie kamen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Sammlung. Reifere Werke waren damals schon nicht mehr auf dem Kunstmarkt erhältlich. Um sie zu unterscheiden, benennt man sie nach ihren Vorbesitzern. Die „Madonna Solly“ pinselte der Künstler noch vor seinem 18. Geburtstag, als er bei seinem Lehrer Pietro Perugino in Urbino arbeitete. Dieser galt selbst als einer der besten Künstler Italiens, geriet aber bald in den Schatten seines begabtesten Schützlings.
Der Perugino-Schüler malt sich frei
Anfangs folgte Raffaels Peruginos Vorbild, doch seine vorsichtige und etwas steife Übernahme von bewährten Gesichtstypen, Posen und gedämpften Farbstimmungen lockerte er allmählich auf. Auch die zunächst noch formelhaft und knapp eingefügten Landschaftsgründe gewinnen an luftiger Weite und atmosphärischem Schmelz. Wechselnde Formate zeugen dabei von der Bandbreite der Wünsche seiner Auftraggeber.
Nahezu lebensgroß thront die „Madonna Terranuova“ von etwa 1505 im innovativen Rundbildformat – ein erster Höhepunkt in Raffaels Schaffen. Mittlerweile war er nach Florenz umgezogen, wo er wissbegierig aktuelle Tendenzen studierte: Leonardos duftiges Sfumato und Michelangelos körperbetonte Inszenierungskunst hinterlassen Spuren in seinem Werk. Gewissenhaft bereitete der junge Raffael seine Malerei mit Zeichnungen vor, etwa mit einem wunderschönen Karton-Fragment des Madonnenkopfes. Er diente als 1:1-Vorarbeit für das Gemälde, ist extrem fein ausgeführt und hängt nun daneben.
Als habe jemand Licht angeschaltet
Fast skizzenhaft tupfte dagegen der junge Maler nur drei Jahre später die Bäume im Hintergrund der „Madonna Colonna“ hin. Überhaupt kommt jetzt richtig Schwung in die Sache: Mutter und Kind bewegen sich frei, die Konturen schwingen. Es scheint, als habe jemand das Licht angeknipst: Die dunklen Schatten sind weg, das Kolorit wirkt rosig und blühend. Im selben Jahr 1508 macht Raffael sich auf den Weg nach Rom: Der Papst ist auf den Jung-Star aufmerksam geworden.
Um sein Schaffen weiter zu verfolgen, müssen Besucher ein Stockwerk höher ins Kupferstichkabinett wechseln. Zuvor empfiehlt sich eine Stippvisite im Grafik-Separée der Gemäldegalerie. Hier ist ein skurriles Biopic aus dem 19. Jahrhundert zu sehen: Der Raffael-Fan Johannes Riepenhausen breitete in zwölf Radierungen fast filmisch die wichtigsten Lebensstationen seines Helden aus. Von der madonnenhaften Geburt bis zum frühen Tod aus: in schönliniger Nazarener-Romantik, gespickt mit tränenreichen Abschieden und schicksalhaften Begegnungen. Natürlich ist viel Phantasie dabei, aber die Fakten stimmen halbwegs.
Schnipsel des Werkstattalltags
Wie wichtig das Medium Grafik für die öffentliche Wahrnehmung Raffaels jahrhundertelang war, veranschaulicht die Schau im Kupferstichkabinett. Ihr Herzstück sind die sechs eigenhändigen Raffael-Zeichnungen im SMB-Besitz. Sie umspannen alle Etappen seines Schaffens bis ins letzte Lebensjahr. Da muss man näher treten und eventuell eine Lupe zücken: Dann kann man dem Genie bei der Ideen- und Formfindung über die Schulter blicken.
Nüchtern betrachtet sind sie diese heute so kostbar gehüteten Blätter nur Schnipsel des Werkstattalltags – mit Flecken und Gebrauchsspuren übersätes Entwurfsmaterial. So durchlöcherte der Künstler die Konturen seines Heiligen Petrus mit winzigen Nadelstichen, um die Form exakt mithilfe von Kohlestaub auf einen anderen Bildträger durchzupausen. Er wechselte von Feder zu Pinsel, von Rötel zu Kreidestift, um schnell zu skizzieren oder sorgsam auszuarbeiten.
Zusammenarbeit mit Dürer-Fälscher
Ob bewegte Apostelgruppe, verspielter Putto oder sich sinnlich räkelnder Gott Pluto: Beschriftungs-Täfelchen verraten, für welche Gemäldeprojekte die einzelnen Zeichnungen entstanden. Raffael nutzte sie nicht zuletzt als Hilfsmittel, um mit seinen zahlreichen Werkstattkollegen effizient und qualitätsbewusst zusammenzuarbeiten. Zwei der engsten Mitstreiter, Gianfrancesco Penni und Giulio Romano, sind mit ein paar eigenen Arbeiten vertreten.
So effektiv, wie der päpstliche Hofmaler Raffael seine Ateliermannschaft in den römischen Jahren managte, popularisierte er auch sein Werk mit Hilfe von Druckgrafik. Da kommt der Kupferstecher Marcantonio Raimondi ins Spiel: Ihm räumt Kuratorin Korbacher den größten Teil der Ausstellung ein. Raimondi hatte Dürer-Motive gefälscht und war damit aufgeflogen, galt aber als bester Grafik-Profi Italiens.
Raffael + Raimondi als dreamteam
Ab 1510 bildeten Raffael und Raimondi offenbar ein dreamteam: Der Kupferstecher reproduzierte liniengetreu in Schwarzweiß wichtige Gemälde und Fresken des Malers. Ob der „Triumph der Galathea“ aus der Villa Farnesina oder der figurenreiche „Parnass“ aus den päpstlichen Privatgemächern im Vatikan: diese berühmten Bilder sind hier als Stiche versammelt, manche gleich mehrfach.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Die Sixtinische Madonna - Raffaels Kultbild wird 500" - in der Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Das Jahrhundert Vasaris" - mit Werken von Florentiner Zeichnern des Cinquecento in der Gemäldegalerie, Berlin
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Florenz und seine Maler - Von Giotto bis Leonardo da Vinci" - in der Alten Pinakothek, München
Figuren für Manets „Frühstück im Grünen“
Ein Beispiel: Édouard Manet pickte sich noch 1863 aus einem Raimondi-Stich eine Figurengruppe heraus, um mit ihr sein berühmtes „Frühstück im Grünen“ zu inszenieren. Allerdings wirken auf heutige Augen all die vielen Kupferstiche, obgleich meist recht großformatig, reichlich spröde: Wir sind nicht mehr gewöhnt, ohne Farbe auszukommen.
Dadurch ist diese Schau eher etwas für Grafik-Liebhaber mit Freude an fein ziselierter Linienführung: Beim „Bethlehemitischen Kindermord“ drängen sich mehr als 20 Figuren in den wildesten Körperdrehungen. Doch die Brutalität des Mordens, das Entsetzen der fliehenden Mütter bleibt ein virtuoses Schauspiel ohne emotionalen Tiefgang – Raffael war eben doch ein Spezialist für sanfte Töne.