
Eine enge Schotterstraße windet sich zwischen Felsen einen Berg hinauf. An ihrem Ende öffnet sich eine weite Hochebene, die den Blick auf ein Dorf am Fuß eines schroffen Gebirgszugs freigibt. Das Dorf und seine wilde Umgebung sind die einzigen Handlungsorte dieses Films. Nichtsdestoweniger ist die Straße, die in die Stadt führt, im Bewusstsein der Protagonisten stets präsent: Die Außenwelt verspricht verführerisch ein besseres Leben jenseits von Armut, Tradition und Fremdbestimmtheit.
Info
Eine Geschichte von drei Schwestern
Regie: Emin Alper,
108 Min., Türkei/ Deutschland/ Niederlande/ Griechenland 2019
mit: Cemre Ebüzziya, Ece Yüksel, Helin Kandemir
Aus der Stadt zurückgekehrt
Als so genannte „Besleme“ („Pflegekinder“), deren Position zwischen Dienstmagd und angenommenem Familienmitglied changiert – eine anatolische Besonderheit –, arbeiteten sie bei besser gestellten Familien in der Stadt. Doch alle drei kehrten aus unterschiedlichen Gründen zurück.
Offizieller Filmtrailer OmU
Notheirat mit dem Schafhirten
Reyhan (Cemre Ebüzzíya), die älteste Schwester, wurde ungewollt schwanger; der Vater ihres Babys gibt Anlass zu Spekulationen. Daraufhin hat Familienpatriarch Sevket (Müfit Kayacan) sie ohne viel Federlesen mit dem ebenso gutherzigen wie einfältigen Schafhirten Veysel (Kayhan Açikgöz) verheiratet – die Auswahl der zur Verfügung stehenden Männer war nicht groß. Das Verhältnis des Not-Ehemanns zu seiner Schwiegerfamilie ist von Missachtung und Spannung geprägt.
Auch die mittlere Schwester Nurhan (Ece Yüksel) hatte kein Glück in der Stadt: Als Kindermädchen schlug die überforderte Halbwüchsige den Sohn des angesehenen Arztes Necati (Kubilay Tunçer), weil sie mit dessen Bettnässerei nicht zurecht kam; daraufhin wurde sie aus dem Haus geworfen. Das aufgeweckte Nesthäkchen Havva (Helín Kandemir) träumt hingegen davon, Medizin zu studieren und Ärztin zu werden; ihre Hoffnungen ruhen auf einer Tante im fernen Istanbul.
Eng verbundene Konkurrentinnen
Mit liebevoller Strenge herrscht der graubärtige Vater über die Mädchen, deren Mutter bereits verstorben ist. Diese Mischung aus Härte und Zärtlichkeit tragen alle Charaktere des Films in sich. So konkurrieren die Schwestern handfest untereinander um die Chance, fort zu gehen, und sind doch zugleich einander sehr eng verbunden. Ihre archaische Welt lässt ihnen kaum Handlungsspielräume; Überleben ist stets prekär, die Liebe hat sich den Notwendigkeiten unterzuordnen.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Abluka – Jeder misstraut jedem" – Polit-Thriller über die Türkei als Polizeistaat von Emin Alper
und hier einen Bericht über den Film "Winterschlaf" – brillantes Anatolien-Drama nach Tschechow-Motiven von Nuri Bilge Ceylan, prämiert mit der Goldenen Palme 2014
und hier einen Beitrag über den Film "Mustang" – komplexes Zwangsheirats-Drama in der Türkei von Deniz Gamze Ergüven.
Tragödie kurz vor Schluss
Für die Entfaltung seines Dorf-Panoramas lässt sich Alper recht viel Zeit; in Sachen Handlung geschieht nicht allzu viel. Als die sich von Anfang an abzeichnende Tragödie schließlich ausbricht, ist der Film fast schon zu Ende. Die losen Handlungsfäden werden dann jedoch recht unvermittelt liegen gelassen. Auch etliche Nebenfiguren bleiben betont skizzenhaft; sie sind kaum mit der Erzählung verbunden.
Für solche Unstimmigkeiten entschädigt allerdings die exquisite Bildgestaltung. Aufnahmen einer majestätischen Bergwelt werden von sehr stimmungsvollen, melancholischen Cello-Klängen untermalt. Aller Tragik und Schwermut zum Trotz bleibt letztlich doch die Hoffnung, dass es den drei lebenstüchtigen Schwestern gelingen möge, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen – anstatt zu resignieren wie ihre russischen Vorbilder.