
Es kommt sehr selten vor, dass ein chinesischer Film den Berlinale-Wettbewerb gewinnt. Als „Das Rote Kornfeld“ 1988 mit dem Goldenen Bären prämiert wurde, war das für den Regie-Debütanten Zhang Yimou der Auftakt zu einer fabelhaften Karriere. Inzwischen gilt er als der erfolgreichste Filmemacher seines Landes, der abwechselnd Blockbuster mit horrenden Budgets und ambitionierte Autorenfilme mit sozialkritischem Einschlag dreht.
Info
See der wilden Gänse
Regie: Diao Yinan,
113 Min., China/ Frankreich 2019;
mit: Hu Ge, Gwei Lun-mei, Liao Fan
Wartezeit tut Plot nicht gut
Für seinen nächsten Film hat sich Diao fünf Jahre Zeit gelassen; ob das an Perfektionismus, Finanzierungsschwierigkeiten oder Ärger mit der Zensur lag, bleibt offen. Die lange Vorbereitungsphase hat jedoch „See der wilden Gänse“ nicht gut getan, zumindest nicht dem Plot. Während die Bildgestaltung abermals exquisit gelungen ist, wirkt die Handlung eher zäh und streckenweise unausgegoren.
Offizieller Filmtrailer
Kopfgeld für die Ex-Frau
Bei einem Untergrund-Treffen mehrerer Diebesbanden, die ihre Reviere in einer Großstadt abstecken wollen, läuft etwas schief. Im anschließenden Tohuwabohu wird ein Gauner geköpft, sein Kumpel Zhou Zenong (Hu Ge) verteidigt sich und erschießt dabei versehentlich einen Polizisten. Daraufhin ist die geballte Ordnungsmacht der Stadt hinter ihm her; Captain Liu (Fan Liao) lässt alle Viertel durchkämmen, um den Polizistenmörder dingfest zu machen.
Auf ihn wird ein hohes Kopfgeld ausgesetzt, so dass auch etliche Unterwelt-Schurken nach ihm suchen. Verletzt und lebensmüde, will Zhou das Geld seiner Ex-Frau Yang Shujun (Wan Qian) zuschustern, die er vor Jahren mit dem gemeinsamen Sohn zurückließ: Sie soll der Polizei den entscheidenden Tipp geben, um mit der Belohnung ein neues Leben zu beginnen. Ähnliches plant auch die Teilzeit-Prostituierte Liu Aiai (Gwei Lun Mei), die von einem Zuhälter auf Zhou angesetzt wird.
Kaum entschlüsselbare Andeutungen
Dass die Ausgangslage schlicht und das Ende erwartbar ist, entspricht durchaus dem Film-Noir-Genre; ebenso die wortkarge Resignation, mit dem sich alle Akteure trotz ihres Aufbegehrens ins Unvermeidliche fügen. Auf dem Weg dorthin mit diversen Finten und Fluchtversuchen wird aber zusehends undurchschaubar, wer sich gerade mit wem gegen wen verbündet oder die Seiten wechselt. Was an der chinesischen Kunst der dezenten Andeutung liegen mag, die für westliche Zuschauer häufig nicht leicht zu entschlüsseln ist.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Feuerwerk am helllichten Tage – Black Coal, Thin Ice" – brillanter Neo-Noir-Krimi in Nordchina von Diao Yinan, Berlinale-Sieger 2014
und hier eine Besprechung des Films "Asche ist reines Weiß" - präzise Mafia-Beziehungs-Studie aus China von Jia Zhangke mit Liao Fan
und hier einen Bericht über den Film "A Touch of Sin" – schonungsloses Sozialdrama über Ausbeutung + Gewalt im heutigen China von Jia Zhangke
und hier einen Beitrag über den Film "A Touch of Zen" – legendärer Kampfkunst-Klassiker (1971) aus Taiwan von King Hu.
Auto-Scheinwerfer als Glühwürmchen
Selbst bei einer Liebesszene im Ruderboot auf dem „See der wilden Gänse“: Der ist nämlich das sommerliche Freizeitareal der Großstadt – gedreht wurde zufällig im mittlerweile weltberühmten Wuhan. Dort finden sich abends Vergnügungen aller Art, feilgeboten von halbseidenen Gestalten, und tagsüber Badespaß wie am Meer. Animierdamen wie Liu, die Ausflügler umgarnen, nennen sich „Badeschönheiten“.
Dieses zwielichtige Milieu hat es dem Regisseur offensichtlich angetan; er scheut keinen Aufwand, um es mit grellen Farben, Schattenspielen und schrägen Perspektiven effektvoll in Szene zu setzen. Dabei gelingen ihm manchmal betörende Bilder, wenn etwa Auto-Scheinwerfer in der Ferne wie Glühwürmchen erscheinen, doch auf Dauer wirkt das ziemlich manieriert.
Im Labyrinth der kleinen Leute
Allerdings ist es eine attraktive Variante, um die Lebenswelt kleiner Leute zu präsentieren, die sonst im chinesischen Kino kaum noch vorkommt: ein Labyrinth aus Garküchen, Hinterhof-Werkstätten und Absteigen. Die wird von der modernitätssüchtigen Parteiführung gern verleugnet; vielleicht hat das die Fertigstellung des Films so lange verzögert?