Marcell Jankovics

Sohn der weißen Stute

In jeder Hinsicht üppig geht es in Jankovics Werk zu. Foto: © 1981 Pannónia Filmstúdió  – Alle Rechte vorbehalten. Fotoquelle: Bildstörung in Kooperation mit Drop-Out-Cinema eG
(Kinostart: 13.8.) Psychedelischer Rausch trifft Volksmärchen: Der Regisseur Marcell Jankovics schuf vor fast 40 Jahren eine wilde Orgie an Farben und Formen. Nun ist sein inhaltlich eher traditionelles Märchen endlich hierzulande zu bewundern.

Je mehr Filme man anschaut, umso schwieriger ist es, noch wirklich neue Seherlebnisse zu haben. Vieles wiederholt sich; irgendwann meint man, jede Handschrift zu kennen. Doch dann kommt ein Film wie „Der Sohn der weißen Stute“ (1981) und beglückt sofort angesichts der visuellen Welten, die sich da auftun.

 

Info

 

Sohn der weissen Stute

 

Regie: Marcell Jankovics,

85 Min., Ungarn 1981

 

Weitere Informationen

 

Der psychedelische Bildersturm, den der Regisseur Marcell Jankovics in seinem Film entfaltet, lässt den Augen kaum Ruhe: Formen fließen ineinander, gebären ohne Unterlass neue Bilder, explodieren und setzen sich neu zusammen. Die ganze Szenerie wogt und dräut. Es ist ein Werden und Vergehen, eine einzige ruhelose Metamorphose. Dazu stoßen Farben wild aufeinander: Nicht nur blau, grün, rot und gelb, sondern auch alle Töne dazwischen.

 

Heldensaga trifft Hippie-Ästhetik

 

Die Hippies hätten es sich zu ihrer Hochzeit nicht schöner ausdenken können. Nur dass der Film von 1981 ist und aus Ungarn kommt – und eben nicht aus dem Kalifornien des Jahres 1967. Zudem hat das Werk mit love and peace auf inhaltlicher Ebene nichts zu tun – im Gegenteil. Es wird eine urtümliche Heldensaga von drei Recken erzählt, die allesamt Söhne einer weißen Stute sind. Dieses menschengebärende Pferd ist eine Art mythologische Urmutter.

Offizieller Filmtrailer


 

Archetypen statt Charaktere

 

Ihr Sohn Baumausreißer ist der Stärkste, schließlich stillte ihn die Stutenmutter ganze 21 Jahre lang; aber auch seine Brüder Steinbröckler und Eisenkneter sind wahre Kraftprotze. Zusammen zieht das Brüdertrio in die Unterwelt, um drei Feenprinzessinnen von vielköpfigen Drachen zu erlösen. Am Ende ist die alte Ordnung wiederhergestellt. Die war einst durch weibliche Neugier zerbrochen – auch das ein eher klassisches Motiv.

 

Die Geschichte wird mit märchentypischen Redundanzen erzählt; viele Situationen wiederholen sich genau drei Mal. Die Figuren sind weniger Charaktere als Archetypen. Die Motive des Filmes  finden sich in mannigfaltiger Form in europäischen Märchen. Ohnehin durchzieht die Beschäftigung mit ungarischen Legenden das facettenreiche Werk des Regisseurs, das sich nicht nur aufs Filmschaffen beschränkt.

 

Flirrende Bilder, kaum Text

 

Der 1941 in Budapest geborene Jankovics ist außerdem als Illustrator, Autor und Dozent aktiv. Er arbeitete jahrelang nicht nur an eigenen Animationsfilmen, sondern wirkte auch an Zeichentrickserien mit. Als Vorlage für „Der Sohn der weißen Stute“ gilt eine Prosadichtung von László Arany, dem 1844 geborenen Dichter und Propagandisten des Magyarentums. Allerdings spielt Sprache in Jancovics’ filmischer Adaption eine untergeordnete Rolle im Vergleich zu den Bildern.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Belladonna of Sadness" – fantastischer psychedelischer Animationsfilm von Eiichi Yamamoto

 

und hier eine Besprechung des Films "Die rote Schildkröte" – minimalistischer Fantasy-Animationsfilm über Robinson-Crusoe-Mythos von Michael Dudok de Wit

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Summer of Love: art, fashion, and rock and roll" – gelungener Überblick über psychedelische Ästhetik im PalaisPopulaire, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Ganz großer Trick!" – anschauliche Silhouetten-Trickfilmschau im Museum FilmBurg, Querfurt.

 

Es gibt wenig Text und noch weniger Dialoge; sie sind in demselben archaischen Duktus wie der restliche Film gehalten. Stattdessen treiben die flirrenden Bilder die Handlung voran. Sie stehen in der Tradition folkloristischer Illustrationen, wie man sie etwa aus Märchenbüchern kennt, oder auch von der überbordenden Ornamentik des osteuropäischen Kunsthandwerkes.

 

Zivilisation gegen Natur

 

Die Märchenadaption kommt mit einer unbekümmerten Expressivität daher, ja geradezu mit wuchtiger Maßlosigkeit. Dazu passt ein zuweilen recht derber Humor und eine sexuell konnotierte Symbolik: Die Schlösser der Feenprinzessinnen sind von einer vulvaartigen Form umgeben, Geburts- und Verschlingungsmotive tauchen immer wieder auf.

 

Die einzige Ausnahme inmitten der organisch fließenden Formen sind die drei Drachen, welche die Prinzessinnen gefangen halten. Sie sind aus kantigen, rechteckigen Formen gebildete Ungeheuer, die an Kriegsgerät und Wolkenkratzer denken lassen: Die abgründige moderne Zivilisation kämpft gegen die mythische Kraft der Natur.

 

Im gegenwärtigen Animations-Mainstream herrscht visuelle Einförmigkeit, mit Pseudo-3D-Optik und glattgeschliffenen Formen. Da lohnt sich dieses Grenzen sprengende Kunstwerk, das nun digital restauriert wurde, auf jeden Fall – auch wenn die Unruhe der Bilder den Zuschauer auf Dauer doch leicht ermattet.