Erinnerung, sprich: Ein Geruch, ein Ton oder eine Geste können lange Verschüttetes wieder ins Bewusstsein holen. So trifft es den Musikprofessor Martin Simmonds (Tim Roth) wie ein Schlag, als ein junger Violinist bei einem Wettbewerb seinen Bogen in einer ganz bestimmten Weise glättet. Diese Geste katapultiert ihn zurück ins Jahr 1941, als sein Vater, ein Musikverleger, das polnische Violinen-Wunderkind Dovidl Rapaport in ihr Londoner Haus aufnimmt.
Info
The Song of Names
Regie: François Girard,
113 Min., Kanada/ Ungarn 2019;
mit: Tim Roth, Clive Owen, Catherine McCormack
Jüdische Feiertage begehen
Sehr anschaulich erzählt Regisseur François Girard die Annäherung zweier unterschiedlicher Jungen aus völlig verschiedenen Welten. Für Dovidl werden in der christlichen Familie sogar die jüdischen Riten und Feiertage wie Bar Mizwa oder Chanuka oder eingehalten. Dennoch ist stets klar, dass das nur ein unzureichender Ersatz für Dovidls eigene Familie sein kann, die er schmerzlich vermisst.
Offizieller Filmtrailer
Spezialist für musikalische Filme
Derweil profitiert der zurückhaltende Martin von der überbordenden Energie des Freundes, der sich durch nichts und niemanden einschränken lassen will. Zehn Jahre später steht Dovidl 1951 kurz vor seinem großen Durchbruch als Geigenvirtuose – als er am entscheidenden Konzertabend verschwindet, ohne ein Lebenszeichen zu hinterlassen.
Dieser Abend bildet den roten Faden für den Film „The Song of Names“ nach dem gleichnamigen Roman von Norman Lebrecht. Girard hat sich mit Spielfilmen wie „Die Rote Violine“ (1998) oder „Der Chor – Stimmen des Herzens“ (2014) einen Namen als Regisseur mit einem guten Händchen für alles Musikalische gemacht. Auch hier gehören die Momente, in denen nur die Musik spricht, zu den stärksten des Films; dabei erzählt er auf mehreren Ebenen die Geschichte einer großen Freundschaft und ihres Verlustes – und fragt zugleich, was ein musikalisches Genie von einem durchschnittlich begabten Musiker unterscheidet.
Budapest als Kino-Warschau
Die Handlung springt zwischen drei Zeitebenen hin und her; von 1941 über 1951 bis 1986, als Martin (Tim Roth) nach 35 Jahren endlich eine Spur zu seinem einstigen Bruderfreund findet und dieser entschieden nachgeht. Seine Suche führt ihn nach Warschau und New York. Dabei lebt die Handlung von ihrer stimmigen Ausstattung; Regisseur Girard erliegt nicht der Versuchung, in Warschau – für das offensichtlich Budapest herhalten muss – traurig-düstere Ostblock-Atmosphäre zu kreieren.
Girard konzentriert sich auf die Entwicklung seiner beiden Hauptfiguren, auch wenn Dovidl zunächst nur als Kind und Jugendlicher in Martins Erinnerung präsent ist. Die Inszenierung schafft es allerdings nicht, allen vor ihr angerissenen Themen gerecht zu werden; gegen Ende gleitet sie immer mehr ins Klischeehafte ab, wenn Dovidls Version der Geschichte vermittelt wird.
Rührstück über gefühlte Schuld
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Das Vorspiel" – intensives Drama über eine Geigenlehrerin + ihren Schüler von Ina Weisse mit Nina Hoss
und hier eine Besprechung des Films "Transit" – vielschichtiges Flüchtlings-Drama mit Paula Beer + Franz Rogowski von Christian Petzold
und hier einen Beitrag über den Film "Saiten des Lebens" – feinsinnige Beziehungsstudie über ein Kammermusik-Ensemble von Yaron Zilberman
und hier einen Bericht über den Film "Die Liebe seines Lebens – The Railway Man" – ergreifendes Schuld-und-Sühne-Drama über einen Weltkriegs-Veteranen von Jonathan Teplitzky mit Colin Firth + Nicole Kidman.
Nun verwandelt sich die Geschichte vom Verlust einer Freundschaft aber in ein zu kurz greifendes Rührstück über die gefühlte Schuld eines Holocaust-Überlebenden, das in der verbleibenden Erzählzeit diesem sehr komplexen Zustand nicht gerecht werden kann.
Wiederholter Konzertabend
Inzwischen hat sich Dovidl in die jüdisch-orthodoxe Gemeinschaft integriert. Er spielt nur noch für sich selbst; ausgelöst durch ein einschneidendes Erlebnis am Tag seines Verschwindens, das den damals jungen, impulsiven Mann auf eine Reise zu seinen Wurzeln schickt; sie wird von Martin 35 Jahre später nachvollzogen.
Das mündet in die sehr emotionale Wiederholung des verpassten Konzertabends unter veränderten Vorzeichen, was den rätselhaften Titel erklärt. Leider schrammt der Film durch exzessive Bildmontagen zum Schluss hart an der Kitschgrenze entlang, so dass er den Zuschauer mit einem leicht schalen Gefühl zurücklässt.