Mein Reich ist nicht von dieser Welt: Wegen eines Gewaltverbrechens ist Daniel (Bartosz Bielenia) in einer Jugendstrafanstalt inhaftiert. Als Messdiener des Gefängnispfarrers wendet er sich dem Glauben zu. Dann wird er wegen guter Führung vorzeitig entlassen und in ein Kaff in der tiefsten polnischen Provinz geschickt; dort soll er in einem Sägewerk arbeiten. Doch ein Blick in diesen Betrieb reicht ihm: Hier will er nicht versauern.
Info
Corpus Christi
Regie: Jan Komasa,
115 Min., Polen/Frankreich 2019;
mit: Bartosz Bielenia, Aleksandra Konieczna, Eliza Rycembel
Am Altar Weihwasser verspritzen
Anfangs begegnet ihm seine konservative, streng gläubige Gemeinde mit Misstrauen. Doch Pfarrer Tomasz besitzt die Gabe der Rede: Anstelle konventionelle Predigten zu halten, fesselt er seine Zuhörer mit aufrichtigen, tief empfundenen Worten über Gott und die Welt, die zu Herzen gehen. Auch die Dorfjugend ist sehr angetan von dem lässigen Neuling, der raucht, Motorrad fährt, während der Messe vor dem Altar tanzt und dabei Weihwasser verspritzt.
Offizieller Filmtrailer
Im Schlamm um Vergebung bitten
Solche Tröstungen tun not: Der Ort ist schwer traumatisiert. Bei einem Verkehrsunfall starben sechs junge Leute; ihre Angehörigen versammeln sich allabendlich an einer improvisierten Gedenk-Kapelle zum Gebet. Mithilfe von Marta (Eliza Rycembel) gelingt es Daniel/ Tomasz, die Gemengelage aus gegenseitigen Vorwürfen und Schuldzuweisungen zu verstehen, welche die Atmosphäre vergiftet und die Gemeinschaft spaltet.
Als Seelsorger bietet er den Trauernden psychotherapeutische Praktiken an, die auch unter Evangelikalen üblich sind: etwa lautes Schreien und Heulen, um Schmerz und Wut auszudrücken. Seine Einmischung missfällt dem Bürgermeister (Leszek Lichota), der zugleich Besitzer des Sägewerks ist: Ihm liegt daran, dass die bisherigen Verhältnisse unverändert bleiben. Pfarrer Tomasz revanchiert sich, indem er bei der Weihe einer neuen Werkshalle die Anwesenden dazu nötigt, im Schlamm kniend Gott um Vergebung zu bitten. Was ihm persönlich nicht hilft: Schließlich holt ihn seine Vergangenheit ein.
Religion für Erniedrigte und Beleidigte
Dieses fulminante Dorf-Drama von Regisseur Jan Komasa ist keine Abrechnung mit Kindesmissbrauch und anderen Leichen im Keller der katholischen Kirche; wie etwa „Gelobt sei Gott“ (2018) von François Ozon oder der Kassenschlager „Klerus“ (2018) von Wojciech Smarzowski, der in Polen fünf Millionen Zuschauer ins Kino lockte. Ebenso wenig die Enthüllungs-Story über einen Scharlatan, der die Leichtgläubigkeit seiner Mitmenschen ausnutzt, bis er entzaubert wird.
Stattdessen stellt Regisseur Komasa bestechend präzise dar, welche Funktion der Glaube für Erniedrigte und Beleidigte hat. Den Möchtegern-Pfarrer, der ein reales Vorbild hat, und seine Schäfchen eint ein ähnliches Geschick: Der Einbruch von Gewalt hat ihr früheres Leben zerstört. Sie luden Schuld auf sich und suchen nun händeringend nach einem Ausweg aus ihrer Verstrickung – christlich gesprochen: nach Heilung und Erlösung. Um dem Wiederholungszwang zu entgehen.
Sehet, welch ein Mensch!
Dabei lebt der Film von seinem alle überragenden Hauptdarsteller: Mit knochigem Schädel, durchtrainiert hagerem Leib und fiebrig brennenden Augen erscheint Bartosz Bielenia wie eine tickende Zeitbombe. Am Altar wirkt er ebenso souverän wie bei einer Schlägerei in der Haftanstalt; seinem Charisma kann sich kaum jemand entziehen.
Wenn Bielenia nach seiner Enttarnung in der Kirche ein letztes Mal mit blankem Oberkörper und gespreizten Armen vor dem Kruzifix auftritt, dann wirkt solche Imitatio Christi keineswegs blasphemisch, sondern absolut wahrhaftig: Sehet, welch ein Mensch! Was er für seine Gemeinde geleistet hat, ist unschätzbar, zählt aber nach den Maßstäben irdischer Justiz nicht: Sie muss die geläufige weltliche Ordnung wieder herstellen.
Versöhnung mit dem Abgehängtsein
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Im Namen des ..." – beeindruckendes Drama über schwule polnische Priester von Małgorzata Szumowska
und hier einen Bericht über den Film „Ida“ – brillantes Drama über eine jüdische Nonne in Polen von Pawel Pawlikowski, prämiert mit Auslands-Oscar 2015
und hier einen Beitrag über den Film"Der die Zeichen liest – Uchenik"– eindrucksvolle russische Groteske über religiösen Fanatismus von Kirill Serebrennikov nach dem Theaterstück von Marius von Mayenburg.
Dabei nehmen Regisseur Komasa und sein Drehbuchautor Mateusz Pacewicz alle Akteure absolut ernst. Trotz ihrer Scheinheiligkeit, Heuchelei und Doppelmoral: Nichts Menschliches ist dem Skript fremd, doch es denunziert keine der Figuren, sondern leuchtet differenziert ihre Charaktere aus. Nicht einmal den Sägewerksbesitzer; er tritt nicht als egoistischer Neureicher auf, sondern bemüht sich durchaus um das Wohl seiner Mitbürger, wie er es versteht.
Erzkatholische Nation verstehen
Alle erstreben das Gute, doch jeder auf andere Weise: Wegen seiner individualistischen Gewissensbetrachtung sieht Komasa sein Werk als „protestantischen Film“. Paradoxerweise ermöglicht er Nichtpolen, die Religiosität dieser erzkatholischen Nation besser zu verstehen – auch und insbesondere Atheisten.