Der Begriff „Anthropozän“ wurde vor rund 20 Jahren geprägt. Darunter versteht man das heutige Erdzeitalter, in dem menschliche Aktivitäten die Erdoberfläche stärker prägen als natürliche Gewalten. Abgesehen von der fortdauernden wissenschaftlichen Debatte, wann genau der Beginn dieser Epoche anzusetzen ist, hat der Begriff einen weiteren Nachteil: Er ist wenig anschaulich.
Info
Die Epoche des Menschen (Anthropocene: The Human Epoch)
Regie: Jennifer Baichwal, Nicholas De Pencier und Edward Burtynsky
87 Min., Kanada 2018;
mit: Hannes Jaenicke, Alicia Vikander
Zwei Vorläufer-Filme
Zudem hat er mit Baichwal und De Pencier bereits zwei Filme realisiert. In „Manufactured Landscapes“ (2006) dokumentierten sie, wie riesige Landstriche in China kultiviert und ökonomisch ausgebeutet werden. „Watermark“ (2013) handelte vom Umgang mit Wasser: von unberührten Bergflüssen und Reisanbau-Terrassen über Staudämme und Kanäle, die riesige Wassermengen aufstauen und umleiten, bis zu stark vergifteten Abwässern.
Offizieller Filmtrailer
Stoßzähne von 7000 Elefanten brennen
Nun also das große Ganze: Wie bringt man das gesamte Erdenrund in einem Film unter? Die Drei haben sich für ein Mosaik entschieden: Wie Steinchen setzen sie Aufnahmen von 43 Drehorten in 20 Ländern zusammen. Dem Ergebnis kann man Abwechslungsreichtum wahrlich nicht absprechen – doch es erscheint zunehmend beliebig, je länger der Film läuft.
Zum Auftakt werden riesige Haufen von Elefanten-Stoßzähnen in Kenia auf freiem Feld aufgeschichtet: Um sie zu erbeuten, haben Wilderer insgesamt 7000 Tiere illegal erlegt. Am Ende des Films wird das Elfenbein verbrannt und dadurch Hehlerware mit einem Verkaufswert von rund 150 Millionen Dollar vernichtet. Ein schmutziges Geschäft, das zum Himmel stinkt, und ein unvergesslicher Anblick. Doch taugt er als inhaltliche Klammer?
Aufgetaute Mammuts beschnitzen
Kurz zuvor besichtigt das Team eine Manufaktur für Elfenbein-Schnitzereien in Hongkong. Hier entstehen in jahrelanger Kleinarbeit unglaublich detailreiche und sündhaft teure Skulpturen: Die Kamera kann sich gar nicht satt sehen an cremeweißen Figuren und verspielten Ornamenten – für westliche Augen hart an der Kitschgrenze.
Dafür verwende man anstelle von Elefanten-Stoßzähnen nun solche von tiefgefrorenen Mammuts, die in Sibiriens auftauenden Permafrost-Böden gefunden würden, versichert der Chef: löbliche Gesetzestreue oder Nebeneffekt fataler Erderwärmung? Das bleibt ebenso unkommentiert wie der Anblick des letzten lebenden Breitmaul-Nashorns, das von einem Ranger bewacht wird.
Pottasche im Ural + Kohle im Rheinland
Andernorts bemühen sich die Filmemacher, Kausalzusammenhänge herzustellen. Auf Ansichten des weltberühmten Steinbruchs für Carrara-Marmor, aus dem riesige Quader abtransportiert werden, folgt eine Werkstatt, in der Bildhauer Repliken berühmter Skulpturen meißeln. In der chilenischen Atacama-Wüste schillern Salinen türkisfarben unter gleißender Sonne; aus ihnen wird Lithium gewonnen. Daraus fertigen Roboter in einer US-Autofabrik hektisch irgendwelche Komponenten, offenbar Batterien.
Abgesehen vom reizvollen Kontrast von Stille und Bewegung: Was folgt daraus? Ist der Abbau dieser Bodenschätze vertretbar oder verwerflich, effizient oder verschwenderisch? Anstatt solche Fragen aufzugreifen, springt der Film an andere Schauplätze. In einer Mine im russischen Ural wird Pottasche abgebaut; die Fräsmaschinen zaubern geometrische Muster in das rot geäderte Gestein. Weniger attraktiv sieht der Braunkohle-Tagebau Garzweiler im Rheinland aus: Hier fressen sich die weltgrößten Schaufelradbagger durch den Boden.
Unterscheidung wird verwischt
Das Verfahren, zunächst Bilder sprechen zu lassen, ohne sie sofort mit Informationen einzuordnen und einzuhegen, hatten die Macher bereits bei den Vorgängerfilmen angewendet. Mitreißend in „Watermark“: Da gelang ihnen ein umwerfendes Panorama der unzähligen Erscheinungsformen, in denen das lebenspendende Nass auftritt. Doch im neuen Film überdehnen sie dieses Prinzip.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Watermark" – spektakuläre Doku über menschlichen Umgang mit Wasser weltweit von Jennifer Baichwal + Edward Burtynsky
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Edward Burtynsky – Oil" mit monumentalen Fotografien der Erdöl-Industrie in der Galerie C/O Berlin
und hier einen Bericht über den Film "Landraub – Die globale Jagd nach Ackerland" – Doku über Agrar-Monopole von Kurt Langbein
und hier eine Rezension der Ausstellung "Letzte Ölung Nigerdelta" – eindrucksvolle Fotografien der Erdöl-Förderung in Nigeria in München, Oettingen + Freiburg i.Br.
Hochwasser in China + Venedig
Zwar trägt Erzähler Hannes Jaenicke auf der Tonspur allerlei Daten und Fakten über Ressourcenverbrauch und Umweltzerstörung vor. Doch der Schnitt springt willkürlich hin und her, um spektakulär wirkende Aufnahmen aneinander zu reihen. Eben noch wurden Bäume in Kanada gefällt – schon wird in Nigeria Holz ins Sägewerk geflößt.
Wenige Minuten später häufen Arbeiter Beton-Elemente an, um Chinas Küste vor Hochwasser zu schützen. Klappe – und Hochwasser schwappt über Venedigs Markusplatz. Im Nu schwimmt die Kamera vor Australien unter Wasser, um im Great Barrier Reef Korallen, die unter steigenden Temperaturen leiden, beim Ausbleichen zu beobachten.
Übernutzt wie Zivilisation
In gewisser Weise leidet dieser Film unter der gleichen Übernutzung seiner Ressourcen, die er unserer technischen Zivilisation vorhält. Bildergewitter und Info-Trommelfeuer überfluten den Zuschauer und lassen ihn ratlos betäubt zurück. Weniger – im Sinne der Beschränkung auf einzelne Phänomen oder Elemente – wäre mehr gewesen. Was bleibt, ist ein betörender Bilderbogen: Die Welt als Nussschale.