Berlin

Gezeichnete Stadt – Arbeiten auf Papier 1945 bis heute

Rainer Fetting: Figur an der Mauer (Detail), 1987, Aquarell und Kreide, Blattmaß: 72 x 54 cm, © Rainer Fetting, Foto: Anja Elisabeth Witte. Fotoquelle: Berlinische Galerie, Berlin
Stadtspaziergang für Flaneure: Die Berlinische Galerie zeichnet nach, wie sich das Erscheinungsbild der Metropole in der Grafik der letzten 75 Jahre verändert hat. Als Archäologie des Urbanen: Zum Vorschein kommen etliche Orte und Menschen, die es längst nicht mehr gibt.

Ein Blätterwald mitten in der Metropole: In der Berlinischen Galerie, dem Landesmuseum für Moderne Kunst, wird seit fast fünf Jahrzehnten vielerlei Kunst auf Papier gesammelt. Diese Grafiken sind teils winzig, teils wandfüllend und manchmal überraschend farbenfroh. Doch sie eint thematisch, dass sie sich allesamt mit der Stadt und ihren Bewohner beschäftigen – nicht unbedingt nur mit Berlin.

 

Info

 

Gezeichnete Stadt -
Arbeiten auf Papier 1945 bis heute

 

14.08.2020 - 04.01.2021

täglich außer dienstags

10 bis 18 Uhr

in der Berlinischen Galerie, Alte Jakobstraße 124 – 128, Berlin

 

Katalog 29,80 €

 

Weitere Informationen

 

Die Ausstellung von mehr als 170 Werken von rund 70 Künstlern aus der hauseigenen Kollektion macht auch Ausflüge nach Paris oder andere urbane Räume. Droht da Beliebigkeit? Jedenfalls richtet sie sich an entdeckungsfreudige Flaneure. Die Gliederung in sechs „Kapitel“ bleibt eher unscharf. Stattdessen verspricht der gezeichnete Stadtspaziergang unerwartete Begegnungen – mit Orten und Menschen.

 

Original mit Pulle + Plüschbär

 

Stolz und mürrisch steht sie da, die Mundwinkel spöttisch herabgezogen. Eine leere Pulle in der einen Hand, in der anderen einen Berliner Plüschbär; dahinter die Gedächtniskirche. Diese Frau hat Klaus Vogelgesang 1976 mit feinsten Bleistiftlinien lebensgroß festgehalten, präzise bis zu den Krampfadern an den Beinen: Realismus am Rande zur Karikatur, grundiert von Neuer Sachlichkeit. Solche Typen nannte man früher „Berliner Original“ – gibt es sie heute noch? Der Künstler wohnte im selben Mietshaus wie die Porträtierte; sie soll auf ihr Konterfei mächtig stolz gewesen sein.

Interview mit Direktor Thomas Köhler + Impressionen der Ausstellung


 

Entleerter Stadtraum

 

Was macht eine Stadt aus? Die gebauten Räume oder ihre Bewohner? „Großstadtpersonal“ nennt Kuratorin Annelie Lütgens, was sie in einem Raum versammelt – wobei ihre Auswahlkriterien etwas unklar bleiben. Walter Stöhrer warf seine „Trottoir-Kinder“ als wild hingesudelte Kritzeleien aufs Papier; als fast abstrakte Rotzgören. Mondän-erschöpft oder sanftmütig-melancholisch geben sich Gertrude Sandmanns Protagonistinnen, die sie Anfang der 1970er Jahre in Schöneberger Lesbenkreisen traf. In der Großstadt leben heißt sich begegnen – oder untertauchen in der Anonymität.

 

In den meisten ausgestellten Arbeiten entleert sich der Stadtraum: Urbane Strukturen und die Architektur mit ihren Straßenfluchten, Brandmauern und Trottoirs dominieren. Dabei hat die Kuratorin einen abwechslungsreichen Mix aus Zeichnungen, Radierungen, Collagen und anderen Medien zusammengestellt. Alle vertretenen Künstler arbeiteten in Berlin, dauerhaft oder zeitweilig. Das prägte ihren Blick und ihre Lebenserfahrung.

 

Holztür als Leinwand-Ersatz

 

Man trifft auf berühmte Berliner Lokalgrößen wie Fluxus-Künstler Wolf Vostell oder den Neuen Wilden Rainer Fetting, aber auch viele weniger bekannte Namen. Themenräume wie „Subjektive Topografie“ oder „Urbane Biotope“ setzen nur lockere Akzente. Es geht hier nicht um Chronologie oder Vollständigkeit, sondern um die enorme Bandbreite der Darstellungen und Techniken. Berlin-Klischees werden beherzt umschifft; selten tauchen das Brandenburger Tor oder der Alex-Fernsehturm als Orientierungsmarke auf. Den Beginn des Rundgangs allerdings markiert die Berliner Stunde Null.

 

Repräsentiert von Werner Heldts kargen Notaten aus der unmittelbaren Nachkriegszeit: Er malte die Brandmauern und Maskengesichter der Ruinenstadt 1946 mit Wachskreide und Schminkfarben auf eine Holztür – weil er kein anderes Material hatte. Im Zeitraffer folgen Reflexe der Zeitgeschichte: Thomas Bayrle hielt den Besuch von US-Präsident Kennedy 1963 in Pop-Art-Manier fest. Da hatte der Mauerbau schon die Stadt in zwei Hälften geteilt.

 

Abbröckelnder Mauerputz

 

Von nun an ist Berlin gezeichnet, unverkennbar, anders als jede sonstige Metropole. An der Berliner Mauer arbeiten sich viele ab: DAAD-Stipendiaten wie der Italiener Emilio Vedova oder der Spanier Antonio Saura agieren ihren Widerstand gegen die betonierte Grenze mit vehementen Übermalungen aus. Wolf Vostell imaginiert einen brutalistischen „Betonstuhl“ als Sprungschanze oder Flugpiste am Potsdamer Platz: sich einfach über die Teilung hinwegkatapultieren.

 

In Ostberlin floriert derweil eine altmeisterliche Grafiktradition von bemerkenswerter handwerklicher Qualität. Viele gezeigte Blätter stammen aus einer Privatsammlung; sie bilden einen Schwerpunkt dieser Ausstellung mit Ansichten längst verschwundener Ecken. Topografisch präzise, unspektakulär in der Motivwahl und grundiert von Melancholie: etwa die S-Bahntrasse am Hackeschen Markt als Lithografie von Dieter Goltzsche oder die Nicolai-Kirche nebst Plattenbau als Aquatinta von Lothar Gemmel. Auf Monika Meisers Radierung „Husemannstraße“ von 1983 meint man förmlich zu sehen, wie der Putz an  kriegsversehrten Mietshausfassaden abbröckelt. Kein Mensch weit und breit: Bleiern ist die Stimmung, die Zeit steht still.

 

Déjà-vu-Moment mit Domkuppel

 

Die Kino-Leuchtreklamen von Arved Dietrich verweisen auf Westberlins Selbstverständnis als ‚Schaufenster der freien Welt‘. Dagegen kommt die Aufbruchsstimmung der frühen 1990er Jahre kaum vor: Jedenfalls nicht auf den poppig bunten Fassaden von Sex-Shops und Animier-Bars, die TAL R vor wenigen Jahren abgekritzelt hat. Im Internet-Zeitalter wirken grelle Leuchtreklamen wie „La Belle“, „Extasy“ oder „Girls Girls Girls“ merkwürdig anachronistisch – zumal der Künstler sie in verschiedenen Orten aufspürte. Solche Eros-Schuppen dürften sich in Kleinstädten eher halten als in Berlin.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Tanz auf dem Vulkan" über das „Berlin der Zwanziger Jahre im Spiegel der Künste“ im Ephraim-Palais, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Die Schönheit der großen Stadt: Berliner Bilder von Gaertner bis Fetting" – gelungene Panorama-Schau von Veduten seit 1800 im Ephraim-Palais, Berlin

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Radikal Modern: Planen und Bauen im Berlin der 1960er-Jahre" – umfassende Überblicks-Schau in der Berlinischen Galerie, Berlin.

 

Im Vergleich zur Malerei fördert das Medium Grafik einen präziseren, analytischeren Blick auf die Anatomie der Stadt. Ihre Charakteristika nehmen die Künstler forschend und sezierend unter die Lupe. Kopfsteinpflaster, Betontreppen oder Terrazzoplatten werden in fotorealistischer Nahsicht herauspräpariert. Einen poetischen Déjà-vu-Moment bescheren verschwommene Fotogravüren der Britin Tacita Dean: Die Domkuppel spiegelt sich 2005 in den bronzenfarben schimmernden Fensterscheiben des Palasts der Republik. Der wurde längst abgerissen; die Rekonstruktion des Stadtschlosses, die an seiner Stelle entstand, hat steinerne Gebäudefronten.

 

Spießige Schrebergärten-Idylle

 

Wie orientiert man sich in einem Stadtgefüge? Der US-Klangkünstler Terry Fox spannte Piano-Saiten durch sein Atelier im Künstlerhaus Bethanien, um die Raumklänge der geteilten Stadt zu vermessen. Am Hermannplatz zeichnete Pia Linz Tag für Tag minutiös neue Beobachtungen in einen großen Gesamtplan. Dagegen bildet Natur nur einen Randbereich in der Ausstellung. Ihrer Nischenexistenz in der Stadt spüren wenige Künstler nach, etwa Gabriele Basch mit dem Dickicht ihrer detailverliebten Scherenschnitte über Schrebergärten: schablonierte Idylle als Großstadtdschungel. Ach Berlin, du kannst so spießig sein!