Eigentlich müsste der Symbolismus sehr populär sein. Mit seiner Vorliebe für Götter, Geister und Feen, für Allegorien und Traumgestalten aller Art hat er viele der Figuren vorgeprägt, die heutzutage Science Fiction und Fantasy bevölkern. Doch das Massenpublikum bevorzugt Superhelden aus Comics und Blockbuster-Filmen, deren dynamische Ästhetik eher dem Futurismus entlehnt ist.
Info
Dekadenz und dunkle Träume.
Der belgische Symbolismus
18.09.2020 - 17.01.2021
täglich ausser montags
10 bis 18 Uhr
in der Alten Nationalgalerie, Bodestraße 1-3, Berlin
Katalog 32 €
Seelenleben von Künstler + Betrachter
Als Sinn-Bilder: Jedes Symbol ist vieldeutig. Es verweist nicht nur auf ein Objekt, den dargestellten Gegenstand, sondern zugleich auf die subjektiven, zuweilen diffusen und unauslotbaren Absichten desjenigen, der es verwendet. Dabei ging es den Symbolisten nicht wie den Impressionisten darum, den konkreten Akt der Wahrnehmung festzuhalten. Sie thematisierten vielmehr das Seelenleben von Künstler und Betrachter; ihre Träume, Ängste und Leidenschaften.
Feature zur Ausstellung. © Freunde der Nationalgalerie
Ausgelaugte Autoritäten
Daher ist der Symbolismus eine Geisteshaltung, kein Stil: Symbolistische Künstler verwendeten ganz unterschiedliche Formensprachen, häufig in rascher Folge wechselnd. Dieses eklektische Vorgehen war Ausdruck ihres Krisenbewusstseins. Ende des 19. Jahrhunderts war der Fortschrittsoptimismus der Industrialisierung weitgehend erschöpft.
Zwar hatten die Nationalstaaten Europas einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, doch zum hohen Preis scharfer sozialer Spaltung und Auseinandersetzungen. Hergebrachte Autoritäten wie Monarchie und Kirche wirkten ausgelaugt und überholt; das Vertrauen der Aufklärung in die vernunftgesteuerte Selbstverbesserung der Menschheit schien fragwürdig. Gelehrte wie Darwin, Schopenhauer, Nietzsche und – ab 1900 – Freud entthronten den Menschen in seinem Selbstverständnis als Krone der Schöpfung.
Schwarzromantische Schattenseiten
Das Bedürfnis nach Orientierung konzentrierte sich auf die Kunst: Die Symbolisten amalgamierten alle möglichen Quellen und Ideen aus Religion und Geistesgeschichte zu neuen Sinnstiftungs-Angeboten. Als europaweite Bewegung in national unterschiedlicher Ausprägung: Im Gegensatz zum orientalisierenden Prunk in Frankreich, verspielter Vergangenheitsseligkeit in Deutschland und barock sinnlicher Lebensfreude in Österreich wandten sich belgische Symbolisten vor allem den Schattenseiten des Daseins zu, in der Tradition der schwarzen Romantik.
Warum gerade in Belgien? Schwer zu sagen. Maßgebliche Faktoren dürften sein: Die junge, 1830 unabhängig gewordene Nation hatte sich konsolidiert und bemühte sich um kulturelles Profil. Als Kolonialmacht des Kongo ab 1885 erlebte Belgien einen Boom; die Kaufkraft des Publikums wuchs. Zudem strahlte Paris, das damalige Mekka der Künste, auf das nahe gelegene Belgien aus: Viele dortige Maler wechselten zwischen Paris und Brüssel hin und her.
Epizentrum von Westeuropa
Doch entscheidend waren wohl die Aktivitäten der Künstlervereinigungen „Les XX“ (Les Vingt) von 1883 bis 1893 und „La Libre Esthétique“ ab 1894 bis 1914: Zu ihren jährlichen Ausstellungen luden sie zahlreiche ausländische Künstler ein, sorgten damit für eine enge Verflechtung der heimischen mit der internationalen Kulturszene und verschafften ihren Mitgliedern öffentliche Aufmerksamkeit weit über die Landesgrenzen hinaus. Einer ihrer Gäste war ein gewisser Vincent van Gogh, der im Anschluss an eine XX-Jahresschau 1890 sein Gemälde „Der rote Weingarten in Arles“ veräußerte – der einzige belegte Verkauf seiner reifen Periode.
Brüssel als bestens vernetztes Epizentrum von Westeuropa: Diesem EU-Prinzip folgt auch die Ausstellung in der Alten Nationalgalerie. Mit 180 Werken von 42 Künstlern bietet sie einen fast enzyklopädischen, wiewohl kompakten Überblick über nicht nur den belgischen Symbolismus. Mehr als ein Drittel der Künstler sind Ausländer; Berühmtheiten wie die Schweizer Arnold Böcklin und Ferdinand Hodler, die Deutschen Max Klinger und Franz von Stuck, die Franzosen Gustave Moreau und Odilon Redon oder der Niederländer Jan Toorop.
Lust an der Nähe von Erotik + Tod
Als „Referenzkünstler“, die den kontinentalen Rahmen vorgeben, um aufzuzeigen, in welche Richtungen die belgischen Symbolisten darüber hinausgingen. Einer der erfolgreichsten unter ihnen war Fernand Khnopff (1858-1921): Seine vielschichtigen Rätselbilder in delikat matten Farben fanden großen Anklang. Das Querformat „Des Caresses“ („Liebkosungen“) von 1896, auf dem eine verzückte Sphinx einen halbnackten Jüngling streichelt, den sie mit ihrer Tatze sogleich niederstrecken könnte, wurde gleichsam zu einer Ikone der Bewegung.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Dekadenz – Positionen des österreichischen Symbolismus" – opulente Epochen-Schau im Unteren Belvedere, Wien
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Jan Toorop (1858–1928)" – fulminante Werkschau des radikalen Symbolisten in München + Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Schönheit und Geheimnis" zu "Der deutsche Symbolismus – Die andere Moderne" in der Kunsthalle Bielefeld
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Schwarze Romantik: Von Goya bis Max Ernst" – reich bestückte Überblicksschau im Städel Museum, Frankfurt am Main.
Kunstreligion neuen Typs
Khnopff und Rops waren dem katholischen Rosenkreutzer-Orden verbunden, den der französische Okkultist Joséphin Péladan 1890 gegründet hatte. Der selbst ernannte Priester wollte esoterisches Geheimwissen mit symbolistischer Ästhetik zu einer Kunstreligion neuen Typs verbinden – und organisierte dafür ab 1892 fünf Ausstellungen in der namhaften Pariser Galerie Durand-Ruel.
Weisheitslehren und Wahn waren Motive, die viele Künstler beschäftigten. Andere, etwa Xavier Mellery (1845-1921) oder Léon Spilliaert (1881-1946), suchten das Geheimnisvolle in betont unspektakulären Ansichten schlichter Interieurs oder Landschaften, denen sie ein schillernd unheimliches Aussehen gaben.
Nach dem Gipfel geht’s bergab
Die Dekadenz im Ausstellungstitel bezeichnet also nicht diejenige verwöhnt-ermatteter Snobs, die sich in plüschigen Salons exotischen Ausschweifungen hingaben. Sondern eher die Experimentierfreude von Künstlern, die in einer Ära voller kreativer Möglichkeiten lebten – aber im Bewusstsein, dass der Höhepunkt der Entwicklung bald überschritten sein dürfte, was der Erste Weltkrieg besiegelte. Das hat ihre Epoche mit der Gegenwart gemeinsam; vielleicht verhilft diese fabelhafte Schau dem Symbolismus zur Popularität, die dieser verdient hat.
Virtueller Rundgang durch die Ausstellung