Über die Gräuel des Krieges, über Schlachten und Soldaten gibt es unzählige Filme. Dagegen widmen sich wenige den Daheimgebliebenen und Heimgekehrten, ihren sicht- und unsichtbaren Verletzungen – oder den Leerstellen, die der Krieg bei ihnen hinterlassen hat und mit denen sie leben lernen müssen. Mit diesen oft ungesagten und auch unsagbaren Verlusten und Ängsten beschäftigt sich Regisseur Kantemir Balagow in „Bohnenstange“. Sein Drama wurde bereits 2019 beim Festival in Cannes in der Nebenreihe „Un Certain Regard“ mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet.
Info
Bohnenstange
Regie: Kantemir Balagow,
139 Min., Rußland 2019;
mit: Viktoria Miroshnichenko, Vasilisa Perelygina, Andrey Bykow
Klinik für schwer verletzte Soldaten
In einem Krankenhaus arbeitet Iya (großartig: Viktoria Miroshnichenko); sie wird wegen ihrer alle überragenden Körpergröße Bohnenstange genannt. Wie viele ihrer Altersgenossinnen hat sie an der Front gekämpft; nun kümmert sie sich nun um schwer verletzte Soldaten. Lichtblick in ihrem einförmigen Alltag ist Paschka, der kleine Sohn ihrer an der Front gebliebenen Freundin Mascha; für ihn zweigt der Stationsarzt Nikolai Iwanowitsch (Andrey Bykow) mitunter eine Extraration Lebensmittel ab.
Offizieller Filmtrailer
Leihmutter wegen Todes-Schuld
Iya scheint wegen ihrer Größe zwar stark, hat aber immer wieder unkontrollierbare Anfälle von Schockstarre, die zu einem tragischen Unfall mit Paschka führen. Wenig später kehrt Mascha (Vasilisa Perelygina) heim und erfährt vom Tod ihres Jungen, erlaubt sich aber nur eine kurze Trauerphase. Mascha ist getrieben von einem unbändigen Lebenshunger, will sich verlieben und auch ein neues Kind, obwohl sie selbst nicht mehr schwanger werden kann.
Deshalb soll ihr Iya Ersatz gebären, quasi als Ausgleich für ihre Schuld. Den potentiellen Erzeuger dafür zu finden ist aber nicht leicht. Außerdem interessiert sich Iya nicht besonders für Männer oder Menschen überhaupt. Nur bei Mascha lässt sie so etwas wie zärtliche Nähe zu; von deren Zuneigung ist sie richtiggehend abhängig. So versucht Iya alles, um Maschas Wunsch zu erfüllen; sie ist sogar bereit, sich für ihre Freundin zu opfern.
Keine Hunde in Leningrad
Inspiriert ist dieser Film vom Roman „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ (1985, deutsch 1987) der belarussischen Literaturnobelpreisträgerin von 2015, Swetlana Alexijewitsch. Ihr Buch beruht auf Gedächtnisprotokollen von Zeitzeuginnen dieser Epoche. Dass der 29 Jahre junge Regisseur Balagow schon der Enkelgeneration der Kriegsteilnehmer angehört, ist dabei kein Nachteil.
Ihm geht es auch nicht um historische Präzision, sondern um (Mit-)Gefühl für Frauen, die einen schrecklichen Krieg überlebt haben und danach wieder ein normales Leben führen müssen. Obwohl sein Film eine sehr russische Umgebung schildert, erzählt er dennoch eine universelle Geschichte. Er zeigt die Versehrungen einer ganzen Generation, die selten so sichtbar sind wie bei Mascha oder den Soldaten im Krankenhaus. Alle Akteure sind gezeichnet; auch der kleine Paschka, der nicht weiß, wie Hunde bellen. Die wurden während der Leningrader Blockade alle aufgegessen.
Von Rumpelkammer zur nächsten
Über der Szenerie liegt meist ein emotionaler Trauerschleier, der sich auch optisch fortsetzt. Selten kann das Auge frei schweifen, noch weniger das Draußen erfahren; es ist nur Zwischenstation für den Wechsel von einer heruntergekommenen, mit dunklen Möbeln vollgestellten Wohnung zu nächsten. Die nicht nur räumlich erzwungene Distanzlosigkeit, aber auch das Gemeinschaftsgefühl in der geschundenen Stadt nach überstandener Katastrophe stellt Regisseur Balagow sehr gut nachvollziehbar dar.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Unter dem Sand – Das Versprechen der Freiheit" – beeindruckendes Drama über deutsche Kriegsgefangene als Minenräumer in Dänemark 1945 von Martin Zandvliet
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Kitschfrei zeitlose Erzählung
Dieser Film ist gleichsam die Momentaufnahme einer Übergangszeit, in der die Menschen wieder zu sich finden und auch wieder in die Zukunft blicken, wie sie ein Kind symbolisiert. Das zeigt die Kamera in einprägsamer Balance zwischen sezierender, distanzierter Beobachtung und teils voyeuristischer Nähe. Dann lässt sie in sowjetisch-russischer Tradition die Gesichter in Großaufnahme sprechen.
Man kann sich ihnen und dieser intensiven Geschichte als Zuschauer kaum entziehen; der Film nötigt einen, sich auseinanderzusetzen mit diesen Menschen, die nach Liebe und einem ungezwungenen Leben dürsten. Dabei beschönigt der Regisseur nichts; er setzt sein Publikum gänzlich kitschfrei und ohne falsches Pathos einer im Grunde archaisch zeitlosen Erzählung aus.