Sich neu erfinden als sozialer Imperativ: in reiferen Jahren etwas ganz Anderes versuchen oder Probleme auf eine Weise angehen, die bislang undenkbar schien – davon handeln zahlreiche Filme. Oft geht es um die Erfüllung eines Lebenstraums oder das Nachholen einer ungelebten Liebe. Manchmal setzt der zweite oder dritte Frühling aber auch kriminelle Energien frei – man denke an die Verwandlung des braven Lehrers Walter White in einen abgründigen Crystal-Meth-Drogenboss in der Erfolgs-TV-Serie „Breaking Bad“ (2008-13).
Info
Eine Frau mit berauschenden Talenten
Regie: Jean-Paul Salomé,
104 Min., Frankreich 2020;
mit: Isabelle Hupper, Hippolyte Girardot, Farida Ouchani
Papa + Gatte waren Gauner
Das hat sie dringend nötig. Als schlecht bezahlte Arabisch-Übersetzerin bei der Polizei kann sie die Ausgaben für das Altenheim, in dem ihre Mutter untergebracht ist, nicht mehr aufbringen. Wie praktisch, dass Patience ein eher laxes Rechtsverständnis gleichsam in die Wiege gelegt wurde: Einst sorgte ihr Vater mit nicht ganz legalen Unternehmungen für einen glamourösen Lebensstil, später ihr früh gestorbener Mann. Dessen Steuerschulden musste Patience jahrelang abbezahlen, während sie das süße Leben immer noch vermisst.
Offizieller Filmtrailer
Sich Schmuggelware unter Nägel reißen
In ihrem drögen Arbeitsalltag muss sie überwiegend Telefonate im Drogenmilieu transkribieren. Eines Tages bekommt sie mit, dass der Sohn der Pflegekraft Khadidja (Farida Ouchani), die sich rührend um ihre kapriziöse Mutter kümmert, in eine Schmuggelaktion verstrickt ist. Spontan torpediert Patience den Zugriff ihrer Kollegen. Damit bewahrt sie den jungen Mann zwar nicht vor der Untersuchungshaft, doch zumindest kann man ihm nun nicht mehr den Schmuggel von zentnerweise Haschisch anhängen.
Es dauert nicht lange, und Patience hat sich die heiße Ware selbst unter den Nagel gerissen. Ihr kommt zupass, dass sie sich in der Szene bestens auskennt. Sie legt sich ein neue Identität als Madame Ben Barka zu, spielt fortan die gebieterische Matriarchin „aus der Heimat“ und lässt zwei trottelige Dealer für sich arbeiten. Nun muss sie sich nur noch die marokkanische Bande vom Hals halten, der die Schmuggelware eigentlich gehört – und ihren Liebhaber Philippe (Hippolyte Girardot) ablenken.
Liebhaber als Chefermittler täuschen
Der könnte ein Erfolgserlebnis dringend gebrauchen; jüngst wurde er zum Chefermittler der Einheit befördert, der Patience zuarbeitet. Natürlich gefällt ihm nicht, nach dem geplatzten Drogenfund nun auch noch von „der Alten“ an der Nase herumgeführt zu werden; „La Daronne“ heißen Film und Buchvorlage im Original.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Gentlemen" – skurrile Krimikomödie um Drogenbaron, der Cannabis-Plantagen verkaufen will, von Guy Ritchie
und hier eine Besprechung des Films "Elle" - raffiniertes Psychodrama über Rache für Vergewaltigung von Paul Verhoeven mit Isabelle Huppert
und hier einen Beitrag über den Film "The Mule" – schnörkelloser Thriller über einen 90-jährigen Drogenkurier von und mit Clint Eastwood
und hier einen Bericht über den Film "Alles was kommt – L’Avenir" – vielschichtiges Porträt einer Philosophie-Lehrerin von Mia Hansen-Løve mit Isabelle Huppert.
Pokerface reicht aus
Die französische Autorin Cayre arbeitet im Brotberuf als Strafverteidigerin. Ihre Erfolgskrimis enthalten aufschlussreiche Einblicke in gesellschaftliche Milieus und Probleme; etwa zur absurden Aussichtslosigkeit des ‚Kriegs gegen Drogen‘, der oft mit einer Diskriminierung von Migranten einhergeht. Solche Themen werden in diesem Film allenfalls gestreift.
Regisseur Salomé konzentriert sich auf Patiences amüsante Manöver. Tiefere psychologische Einblicke fehlen, so dass Isabelle Huppert zunehmend unterfordert wirkt: Mehr als ein Pokerface muss sie kaum zeigen. Dabei sorgt ihre Dreistigkeit durchaus für Situationskomik. Auf Dauer reicht das aber nicht aus; zumal die zweite Hälfte mit wenig Überraschendem aufwartet. In der Geschichte dürfte erheblich mehr Potential stecken, als diese etwas behäbige Komödie aufgreift.