Der Mann im Hintergrund: Im Gegensatz zu den meisten Modedesignern, die als eitel und aufmerksamkeitssüchtig verschrien sind, hat der belgische Créateur Martin Margiela nie viel Aufhebens um seine Person gemacht, sondern lieber seine Entwürfe sprechen lassen. Durch seine Zurückhaltung entstand seit Beginn seiner Karriere in den 1980er Jahren eine mythische Aura um seine Person. Sie wirkt bis heute in der Modewelt nach, obwohl kaum eine Handvoll Fotos von ihm bekannt sind.
Info
Martin Margiela – Mythos der Mode
Regie: Reiner Holzemer,
91 Min., Belgien/ Frankreich/ Deutschland 2019;
mit: Martin Margiela, Jean-Paul Gaultier, Carine Roitfeld
Pullover aus alten Socken
Skulpturale Kleider aus Abfallmaterialien oder Kunsthaaren, ein Pullover aus ausgedienten Socken, umfunktionierte Theaterkostüme oder fließende Silhouetten in Nichtfarben: all das stellte in den bunt überdrehten späten 1980er und frühen 1990er Jahren eine Sensation dar, ebenso wie seine Modenschauen in Lagerhallen oder unter freiem Himmel auf einem Parkplatz. Heute ist derlei im Modegeschäft etabliert.
Offizieller Filmtrailer OmU
Kulturgeschichte der Gegenwartsmode
Wie das vor rund 30 Jahren wirkte, erzählen Margielas Freunde, Bewunderer und Weggefährten sehr anschaulich und ausführlich; darunter Jean Paul Gaultier, dessen Assistent Margiela in der 1980er Jahren war; seine damaligen Models, die er teilweise auf der Straße gecastet hatte, oder die ehemalige französische „Vogue“-Chefin Carine Roitfeld.
Sie zeichnen damit sowohl ein Bild des Designers als auch eine kleine Kulturgeschichte der Gegenwartsmode: quasi aus Anti-Sicht eines Schöpfers mit eigenem Modehaus, der sich um Trends nicht scherte, sondern mit seinen Kreationen viele andere Designer inspirierte und dies noch lange tun wird. Nebenher erzählt der Film aber auch von den Umwälzungen der einst kreativen Modebranche, die sich nach 2000 immer mehr zum reinen Geschäft entwickelte – aus diesem Grund zog sich Margiela letztlich daraus zurück.
Aufgewachsen im Friseurladen
Das Hauptinteresse des Films gilt jedoch dem Ursprung von Margielas bahnbrechenden Einfällen, wovon er selbst berichtet; der Originaltitel lautet daher „Margiela – In His Own Words“. Seine Stimme und Hände führen den Zuschauer anhand von Archivaufnahmen und -stücken aus seiner Kindheit, etwa einem Tagebuch mit frühen Entwurfszeichnungen, durch den Film. Dabei erzählt er weitgehend chronologisch seinen Werdegang vom schüchternen, 1957 geborenen Jungen in der belgischen Provinz zum gefeierten Designer.
Aufgewachsen im Friseurladen seines Vaters, war er beseelt vom Wunsch, eines Tages in Paris Kleidung zu gestalten wie André Courrèges, der in den 1960er Jahren durch futuristische Entwürfe bekannt wurde. Grundlagen dafür lernte Margiela bei seiner exzentrischen Großmutter, einer Schneiderin. Er studierte in den späten 1970er Jahren in Antwerpen wie der ein Jahr jüngere Dries van Noten; über ihn hat Holzemer ebenfalls einen Dokumentarfilm („Dries“, 2017) gedreht.
Inspiriert von intelligenten Frauen
Margiela spricht offen darüber, wie Erfahrungen in seiner Kindheit und Jugend sein späteres Schaffen prägten. So sind seine berühmten Haarkleider ein Ergebnis der Eindrücke im Friseursalon; das heute als Upcycling bezeichnete Wiederverwerten gebrauchter Kleidungsstücke geht auf Experimente in seiner Studienzeit zurück.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Jean Paul Gaultier: Freak & Chic" – Dokumentation über Jean Paul Gautier von Yann L’Hénoret
und hier einen Bericht über den Film "Yves Saint Laurent" – einfühlsames Biopic über den berühmten Modeschöpfer von Jalil Lespert
und hier einen Beitrag über den Film "Der seidene Faden" – Psychothriller über exzentrischen Schneider im London der 1950er Jahre von Paul Thomas Anderson.
Gesichtslos sympathisch
Holzemers recht konventionelle Herangehensweise an Margielas Werk, das in Modekreisen als revolutionär gilt, lässt dessen Vision und Kreativität für sich sprechen. Die schlichte und mitunter akribische Herangehensweise des Films entspricht damit dem Arbeitsstil des Designers: Er schuf mit akkurater Präzision etwas gänzlich Neues, indem er japanische Schlichtheit mit europäischer Lässigkeit paarte. Das arbeitet der Film hervorragend heraus. Dafür braucht er keine Effekte: Bilder und Aussagen sprechen für sich.
So bietet Regisseur Holzemer weder Sensationen noch Überraschungen; er porträtiert einfach auf sympathische Weise einen auch ohne Gesicht sehr präsenten Modeschöpfer, dem sein Rang wohl bewusst ist und der sich dennoch selber nicht so ernst nimmt. Für Margiela-Fans sicher keine neue Erkenntnis; wer sich aber wirklich für die Entwicklung der zeitgenössischen Mode interessiert, wird nicht enttäuscht.