
Wer sind wir, wenn unser Bewusstsein abschaltet? Anders gefragt: Wohin führt uns das Gehirn, während es im Schlaf daraufhin arbeitet, dass wir erfrischt aufwachen? Aufräumen und Träumen liegen eng beieinander; geistige Spreu trennt sich dabei vom Weizen. Aus gutem Grund ist das Meiste davon bald vergessen. Was der Geist in diesem Standby-Modus produziert – dem wird allerdings trotzdem große Bedeutung beigemessen.
Schlaf Regie: Michael Venus, 102 Min., Deutschland 2020; mit: Sandra Hüller, Gro Swantje Kohlhof, August Schmölzer Info
Albtraum mit Realitätsgehalt
Was, fragt sich die Flugbegleiterin Marlene (Sandra Hüller), hat es mit dem merkwürdigen Hotel auf sich, das immer wieder in ihren quälenden Albträumen auftaucht? Ein zufälliger Blick in ein Magazin lässt sie erschaudern. Der Ort existiert tatsächlich: Es handelt sich um ein Waldhotel in der Nähe der beschaulichen Gemeinde Stainbach – ein Provinznest, das hier mit Sorgfalt eingeführt wird. Und das überall liegen könnte.
Offizieller Filmtrailer
Mutter im Stupor
Heimlich, ohne ihre besorgte Tochter Mona (Gro Swantje Kohlhof) zu informieren, reist Marlene dorthin. Sie quartiert sich am Ort ihrer Albträume ein, im „Hotel Sonnenhügel“. Die menschenleere Herberge verströmt den Geruch miefiger Bürgerlichkeit; Jagdtrophäen an den Wänden sprechen Bände. Doch bevor hier etwas Außergewöhnliches passieren kann, überrascht das Drehbuch mit einer Wendung. Nach einem schweren Anfall in ihrem Hotelzimmer landet Marlene direkt in einer nahe gelegenen Klinik.
Gefangen in einem Stupor, einem Zustand der völligen psychischen und motorischen Erstarrung, liegt sie im Bett. Sandra Hüller, sonst regelmäßig in tragenden Rollen zu erleben, wird zur Regungslosigkeit verdammt; als eine die Handlung vorantreibende Kraft fällt sie erst einmal aus. Dass Mona die eigentliche Hauptfigur ist, hatte sich allerdings schon zu Beginn angedeutet. Als wäre die junge Frau die Mutter in der Beziehung, packt sie Marlenes Butterbrote ein und kümmert sich um ihre Termine.
Wirkungsvolle Provinzatmosphäre
Nach dem Zusammenbruch will Mona herausfinden, was ihre ohnehin labile Mutter so sehr aus der Bahn geworfen hat – und betätigt sich als Detektivin. Auch Mona taucht auf ihrer Suche nach Antworten bald in surreale Albträume ab. Die sind bemerkenswert wirkungsvoll in Szene gesetzt; Bild- und Toneffekte sorgen für unbehagliche Momente. Gelegentlich greift Venus zu eher lauten Schockeffekten, doch die meiste Zeit lässt er vor allem die bedrückende Provinzatmosphäre wirken.
Das schwer greifbare Unheil, auf das Mona bei ihren Nachforschungen stößt, führt nicht nur tief in ihre eigene Familiengeschichte. Der Film schlägt zudem einen Bogen von der deutschen Vergangenheit zu besorgniserregenden Tendenzen in einer Gegenwart, in der rechtsradikale Kreise Morgenluft wittern und sich neu formieren.
Grauenvoller Größenwahn
Dass Venus‘ gelungen inszenierter Horror-Heimatfilm dabei nicht ins Eindimensionale kippt, ist nicht zuletzt den Darstellerleistungen zu verdanken. Gro Swantje Kohlhof vermittelt Monas wachsende Verwirrung überzeugend. Sandra Hüller zeigt, wie viel man allein durch Mimik ausdrücken kann. Besonders hervorzuheben sind jedoch August Schmölzer und Marion Kracht, die dem Geschehen eine besonders eindringliche Intensität verleihen.
Hintergrund
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Horrorkino spiegelt Realität
Besonders in Erinnerung bleibt eine Szene an einem reichlich gedeckten Esstisch, bei der erstmals einige Masken fallen – ein Vorgeschmack auf die Raserei, in die das Ganze mündet. Der schlichte Titel des Films verweist auf unterschiedliche Aspekte: Auf Marlenes Albträume, auf die verschlafene Provinz, aber auch auf verborgene Tendenzen im Untergrund.
In diesem Fall geht es konkret um langsam erwachende Kräfte, die von einem anderen Deutschland träumen. Die Mittel des Horrorkinos erweisen sich dabei als überaus passend zu den gesellschaftlichen Tendenzen, die Venus in seinem ambitionierten Debüt ins Visier nimmt.