Milo Rau

Das Neue Evangelium

Jesus (Yvan Sagnet) auf dem Weg zur Kreuzigung. Foto: Port au Prince Pictures
(VoD-Start: 17.12.20) Afrikanische Tomatenpflücker treffen auf römische Legionäre: Regisseur Milo Rau gelingt ein vielschichtiger, gegenwartssatter Bibelfilm. Zugleich bezieht er sich auf Pasolinis Interpretation des Matthäus-Evangelium von 1964.

Im Jahr 1964 drehte der Regisseur Pier Paolo Pasolini im süditalienischen Dorf Matera „Das 1. Evangelium – Matthäus“. In diesem Film erzählte er das Leben des Jesus von Nazareth in der Version des Matthäus-Evangeliums nach – ganz wortgetreu, was Fans wie Kritiker des katholisch sozialisierten Atheisten gleichermaßen erstaunte. Seine Laiendarsteller fand Pasolini, wie schon bei früheren Projekten, in der örtlichen Bevölkerung. In den folgenden Jahren kamen zahlreiche italienische Filmproduktionen nach Matera.

 

Info

 

Das Neue Evangelium

 

Regie: Milo Rau,

107 Min., Deutschland/ Schweiz/ Italien 2020;

mit: Yvan Sagnet, Maia Morgenstern, Enrique Irazoqui

 

Website zum Film

 

Bald entdeckte auch Hollywood den Ort für sich. Unter anderen drehten hier Mel Gibson („Die Passion Christi“, 2004), Abel Ferrara („Mary“, 2005) und Garth Davis („Maria Magdalena“, 2018). Wie schon bei Pasolini fielen dabei immer wieder zahlreiche Komparsenjobs für die Anwohner ab. Matera verkaufte sich erfolgreich als Doppelgänger des biblischen Jerusalem – wie man sich diesen Ort, beeinflusst durch Barockmalerei und das Kino, eben vorstellt.

 

Kulisse schafft Komparsenjobs

 

Niedrige, lehmfarbene Häuser schmiegen sich im sanften Bogen an Hänge; etwas außerhalb bietet sich ein schroffer Hügel als Golgatha an. Die nahegelegene Höhlensiedlung Sassi, mittlerweile UNESCO-Weltkulturerbe, liefert eine perfekte archaische Wohnkulisse; in der Umgebung gibt es ein Gewässer, das als See Genezareth herhalten kann. Die Stadt hat für ihre eigene Passionsspiel-Variante in Kooperation mit der Filmindustrie sogar einen Kostümfundus angelegt.

Offizieller Filmtrailer


 

Nicht ohne die Geflüchteten

 

2019 initiierte Matera als Kulturhauptstadt Europas eine eigene Filmproduktion; als Regisseur wurde der Schweizer Allroundkünstler Milo Rau engagiert. Der orientiert sich mit seinem „Neuen Evangelium“ zunächst an Pasolini: Nicht nur hat dessen Jesus-Darsteller Enrique Irazoqui einen Auftritt als Johannes der Täufer. Rau geht es auch, ähnlich wie seinerzeit Pasolini, um Jesus‘ Rolle als Sozialrevolutionär: Er inszeniert eine eher säkulare Lesart von Christus Leben und Wirken mit vielen Gegenwartsbezügen.

 

Zudem will Rau auftragsgemäß mit der örtlichen Bevölkerung arbeiten. Doch ihm wird schnell klar, dass er den Film nicht ohne die Geflüchteten drehen kann, die zu Tausenden in improvisierten Lagern im Umland leben und für einen Stundenlohn von 3,50 Euro Tomaten ernten. So findet er seinen Jesus in dem Aktivisten Yvan Sagnet, der politischen Widerstand für die rechtlosen Geflüchteten ohne gültige Dokumente organisiert. Auch die Darsteller seiner Jünger engagieren sich gegen die Ausbeutung von Migranten, in Initiativen wie der „Rivolta de la dignidad“ („Revolte der Würde“), dem „Casa Sankara“ oder im „No Cap“-Projekt, das für faire – in diesem Kontext: mafiafreie – Landwirtschaft steht.

 

Casting wird Teil der Handlung

 

Viele von ihnen sind Muslime, einige Frauen: Die Darstellerin der Maria Magdalena etwa ist Sozialarbeiterin. Die Römer und die Bevölkerung Jerusalems werden dagegen aus dem routinierten Komparsenpool der Stadt besetzt. In einer aufschlussreichen Szene erweist sich der Bürgermeister als PR-Profi, wenn er erklärt, dass er anstelle des Pilatus lieber den Simon von Kyrene spielen will, der Jesus auf der „Via dolorosa“ das Kreuz abnahm: ein Politiker als erster Diener des Volkes.

 

In einer anderen, ziemlich furchterregenden Probenszene steigert sich ein Schauspieler wie gefordert in eine rassistische Gewaltfantasie hinein. Plötzlich stehen auch die „120 Tage von Sodom“ (1975) im Raum: Pasolinis letzter, wegen seiner krassen Darstellungen von Folter, Vergewaltigung und Mord bis heute kontroverser Film. Rau entscheidender Kunstgriff ist, seinen Bibelfilm nicht linear zu erzählen, sondern dessen Entstehungsgeschichte – Casting, Proben und die Biographien der Darsteller – mit einzuflechten. Immer wieder springt die Geschichte aus der wohl bekannten Handlung heraus, um technische Vorbereitungen oder Casting-Interviews zu zeigen.

 

Vielstimmiges Evangelium

 

Hintergrund

 

Lesen sie hier eine Rezension des Films "Das Kongo Tribunal" – beeindruckende Doku über Theaterinszenierung zu neokolonialer Ausbeutung von Milo Rau

 

und hier einen Bericht über die Dokumentation "Die Moskauer Prozesse" – anschauliche Re-Inszenierung der Schauprozesse gegen russische Künstler von Milo Rau

 

und hier einen Beitrag über den Film "Maria Magdalena" - halbherziges Biopic über die Gefährtin Jesu von Garth Davis mit Rooney Mara und Joaquin Phoenix

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung „Pasolini Roma“ – exzellente Retrospektive über Leben + Werk von Pier Paolo Pasolini im Martin-Gropius-Bau, Berlin.

 

Filmreife Einstellungen von Abendmahl, Kreuzigung und Teufelsversuchung werden abgelöst von Publikumsreaktionen und einer Parallelhandlung, die im Reportage-Stil vom politischen Kampf der afrikanischen Darsteller berichtet. Manchmal steckt nur Yvan im Jesusgewand, während seine Mitspieler in ihrer Feldarbeiterkluft auftreten. Als Jesus zum Pessach-Fest nach Jerusalem/Matera kommt, tritt er in vollem Kostüm auf, aber eben auch als Sprachrohr der „Rivolta de la dignidad“. Römische Legionärsdarsteller und echte Carabinieri offenbaren derweil unheimliche Ähnlichkeiten.

 

Im Schnitt ist es Rau gelungen, seine Evangeliums-Inszenierung und das eigene „Making of“ zu einer vielstimmigen Erzählung zu verbinden, die der „Greatest Story Ever Told“ – so der Originaltitel von George Stevens‘ monumentalem Jesus-Film von 1965 – erst wahrhaftiges Leben einhaucht. So macht er in Zeiten, in denen die Qualität eines Films zunehmend an Besetzungs-Entscheidungen gemessen wird, nicht nur alles richtig.

 

So eloquent wie selbstreflektiv

 

Er legt zudem freimütig seine Methoden offen, als wolle er Missverständnissen vorbeugen. Wie mit einem Lichtschalter knipst er mit klassischer Musik von Wagner, Bach, Mozart und Pergolesi biblisches Pathos an und aus; von Vinicio Capossela gesungene italienische „Work Songs“ sorgen für Kontraste. Das ist nicht nur doppelbödig, sondern greift auf vielen Ebenen ineinander. Als selbstreflexiver, säkularer Bibelfilm erklärt sich dieses Werk eloquent und absolut überzeugend selbst – und bietet im Abspann einen trotz Covid-Masken hoffnungsvollen Epilog.

 

Direktzugang zum Film hier