Über ein Panorama sanfter Hügel gleitet der Blick der Kamera aufs Meer und eine nahe Insel – und aus dem Off ist das Schluchzen einer Frau zu hören. Irritation ist von Anfang an ein zentrales Stilmittel im zweiten Spielfilm des griechischen Regisseurs Michalis Konstantatos.
Info
All The Pretty Little Horses
Regie: Michalis Konstantanos,
102 Min., Griechenland 2020;
mit: Yota Argyropoulou, Dimitris Lalos, Katerina Didaskalou
Überleben Urban Style
Statt seiner eigentlichen Profession nachzugehen, hat sich Pedros hier als Hausmeister verdingt, während Aliki unter deprimierenden Umständen in der häuslichen Pflege arbeitet. Und dass sie nach getaner Arbeit Sex im Auto haben, zeigt nicht so sehr spontane Leidenschaft – sondern liegt eher daran, dass sie in ihrer kleinen Wohnung, in der ihr Sohn Panayiotis (Alexandros Karamouzis) und seine Babysitterin auf sie warten, kaum Privatsphäre haben.
Offizieller Filmtrailer
Ihre Familie gehört zu den Entwurzelten der in Griechenland bald zehn Jahre währenden Krise. Wohnung, Jobs und Freunde in Athen haben sie verloren und sich zum Überleben in eine ländliche Region geflüchtet – allerdings ohne dabei Stil und Habitus der aufsteigenden urbanen Mittelschicht abzulegen. Wie um sich nicht mit dem Niedergang abfinden zu müssen, verbringen sie immer mehr Zeit statt in ihrer beengten Bleibe in der von Pedros gepflegten Villa: Sie betrachten sie bald als ihr Zuhause.
Lethargie statt Klassenkampf
Das Thema der Aneignung fremden Lebensraums ruft unweigerlich Vergleiche mit „Parasite“ von Bong Joon-ho auf den Plan. Doch Konstantatos‘ Film hat mit der über die Stränge schlagenden Klassenkampf-Metaphorik des koreanischen Kassenschlagers von 2019 wenig gemein. Statt auf eruptive Höhepunkte hinzustreben, bleibt die Erzählung in „All the Pretty Little Horses“ auf Distanz.
Nichts liegt Aliki und Pedros in ihrer Lethargie ferner, als den Kampf um ein besseres Leben aufzunehmen. Gegen wen sollten sie auch kämpfen? Im Gegensatz zu den unterprivilegierten Armen aus „Parasite“ gibt es für sie keine feindliche Klasse der Besitzenden. Ihnen scheint es erstrebenswerter, endlich wieder die Stellung und Mittel zu erlangen, die zu ihrem Outfit und ihren Haltungen passen. Doch in ihrem verzweifelten Wunsch, wieder dazuzugehören, werden sie sich selbst zum schlimmsten Feind.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Parasite" - gelungen gallige Aufsteiger-Sozialsatire aus Korea von Bong Joon-ho
und hier einen Beitrag über den Film "Das Wunder im Meer von Sargasso" - abgründiger griechischer Thriller von Syllas Tzoumerkas
und hier eine Besprechung des Films "A Blast – Ausbruch" – griechisches Familien-Drama von Syllas Tzoumerkas.
Warten auf das Unheil
Mehr als einmal schlägt freundschaftliche Balgerei der Ehepartner plötzlich in körperliche Aggression um. Doch genauso wenig, wie sie vor sich selbst fliehen können, gelingt es ihnen, den anderen zu verlassen. Ohne viel zu reden, klammern sie sich zunehmend verbissener aneinander.
Ihre ausweglose Lage inszeniert die Regie mit oft unerwartet bedrohlichen Untertönen. Immer wieder gibt es Momente des Erschreckens; vielleicht ein Verweis darauf, was passieren könnte, wenn das ständig gefürchtete Unheil tatsächlich eintreffen würde. Allerdings scheinen die derzeitigen Lebensumstände der Protagonisten von realer Armut weit entfernt zu sein – noch leisten sie sich Restaurantbesuche, Taxifahrten und teure Einkäufe. Und leicht findet sich immer jemand, der noch schlechter gestellt ist.
Dass sie ihre einst gehegten Träume nicht mehr verwirklichen können, nagt dennoch sichtlich an Aliki und Pedros. So sehr, dass kein Platz mehr für die Frage bleibt, ob diese Träume jemals des Träumens wert waren.
(VoD-Start: 30.4.2021, DVD-Start: 6.5.2021)