
Joe Wright ist bekannt für sein goldenes Händchen bei der Adaption literarischer Stoffe. „Stolz und Vorurteil“ (2005) von Jane Austen, „Abbitte“ (2007) von Ian McEwan oder auch „Anna Karenina“ (2012) von Lew Tolstoi – Wright verwandelte all diese Vorlagen in preisgekrönte Filmkunstwerke. Es war fast überfällig, dass der britische Regisseur auch mal daneben greift.
The Woman in the Window Regie: Joe Wright, 101 Min., USA 2020; mit: Amy Adams, Julianne Moore, Gary Oldman Weitere Informationen zum Film Info
Missglückte Hommage
Trotzdem wurde der Roman in rund vierzig Sprachen übersetzt. Die Filmrechte waren schon vor seinem Erscheinen verkauft. Wrights Verfilmung erweist sich als Mischung aus Psycho-Thriller, verunglücktem Krimi und Spuk-Horror – und ist zudem ein Kammerspiel. Wegen der Agoraphobie der Hauptfigur spielt die Handlung fast ausschließlich in Innenräumen. Darüber hinaus ist das Ganze als eine zweifelhafte Hommage an Alfred Hitchcocks „Fenster zum Hof“ (1954) in Szene gesetzt.
Offizieller Filmtrailer
Betablocker + Wein
Anna Fox (Amy Adams) ist Kinderpsychologin und Mutter. Von ihrer Familie lebt sie getrennt, allein mit einer schneeweißen Langhaarkatze. Ein Gefühl klaustrophobischer Beklemmung will in ihrem New Yorker Apartment nicht recht aufkommen, schließlich erstreckt sich die Wohnung in bester Lage über drei Etagen. Liebhaber von Stilmöbeln werden aber ihre Freude haben.
Da Anna in Gegenwart anderer Menschen Panikattacken erleidet, hat sie ihr Luxusdomizil seit zehn Monaten nicht verlassen. Ihre Betablocker spült sie mit Rotwein runter; die meiste Zeit befindet sie sich in einem Zustand jenseits der Zurechnungsfähigkeit. Arbeiten muss sie ohnehin nicht. Ihren Alltag verbringt sie am Telefon mit Tochter und Exmann sowie mit der Beobachtung der Nachbarn in den Häusern ringsum.
Spannendes Auf-der-Stelle-treten
Gegenüber ist eine Familie aus Boston eingezogen, die Russells: Frau, Mann und ein labiler Teenager-Sohn. Anna macht zaghaft Bekanntschaft mit der Familie, muss aber schon nach wenigen Tagen von ihrem Fenster aus beobachten, wie Frau Russell erstochen wird – was die Polizei in Ermangelung einer Leiche und in Anbetracht von Annas Psychopharmaka-Missbrauch aber nicht glauben mag.
Ein halbes Stündchen lang gelingt es „The Woman in the Window“, sein Publikum durch das Rätsel um die Hauptfigur zu fesseln. Was ist los mit Anna? Was ist passiert? Ihre Agoraphobie und die Hintergründe dieser Platzangst offenbaren sich erst nach und nach. Diese Spannung wird aber nur gehalten, solange der Film auf der Stelle tritt.
Gut besetzt, schlecht erzählt
Das retardierende Moment verliert genau da seinen Reiz, wo die Handlung eben doch vorangetrieben wird. Das Drehbuch von Tracy Letts (in einer Nebenrolle als Annas Therapeut zu sehen) versucht, dieses Dilemma aufzulösen, indem es sich in Klischees und Absurditäten flüchtet. Der Krimiplot, auf den alles zusteuert, ist eher bekloppt. Der B-Movie-Charme des Finales beißt sich mit den offensichtlichen Ambitionen des Films – und seinem Staraufgebot.
Amy Adams hat bereits man in ähnlichen, offensiv kaputten Rollen gesehen, etwa als Kriminalreporterin in der Mini-Serie „Sharp Objects“ (2018); die handelt von einem Mordmysterium in einer Kleinstadt. Sie macht ihren Job zuverlässig gut: „a drunken shut-in pill-popping cat-lady“. Eine Pillen schluckende Trinkerin, deren bester Freund ihre Katze ist – so die Charakterisierung ihres Kollegen Gary Oldman. Der trägt als verkrusteter Alistair Russell allerdings etwas zu dick auf. Julianne Moore hat dagegen einen großen, exaltierten Auftritt als vermeintliche Jane Russell, bekommt aber schon kurz danach ein Messer in den Bauch gerammt.
Optisch überfrachtet
Was man dem Film zugestehen kann, ist sein Stilbewusstsein. „Ich klotze eben gern“, hat Regisseur Wright mal über seine Handschrift gesagt. Und das tut er. Vor allem die Kamera darf zeigen, was sie drauf hat, und würfelt eine Menge verschiedener Perspektiven durcheinander. Gekippte Ansichten, die sich langsam in die Horizontale drehen; schaukelnde Einstellungen; Blickachsen von unten nach oben, dann wieder von oben nach unten. Videogegensprechanlage, Smartphone-Display und Flachbildschirmfernseher – alles dabei.
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die dunkelste Stunde" – packendes Biopic über Winston Churchill mit Gary Oldman von Joe Wright und hier einen Beitrag über den Film "Nocturnal Animals" – perfekt inszenierter Psychothriller von Tom Ford mit Amy Adams und hier eine Besprechung des Films "Anna Karenina" – bildgewaltige Literaturverfilmung mit Keira Knightley von Joe Wright. Hintergrund
Flickschusterei am fertigen Film
Ursprünglich plante 21st Century Fox einen Kinostart bereits im Herbst 2019. Nach der Übernahme von Fox durch Walt Disney ließen die neuen Bosse das fertige Werk aber umschreiben und -schneiden. Den neuen Starttermin im Frühling 2020 vereitelte die Corona-Pandemie. So erscheint der allerletzte Film unter dem Label Fox 2000 Pictures jetzt via Netflix auf dem privaten Kleinbildschirm. Schade um die Breitwandbilder luxuriöser Wohnlandschaften. Aber zugleich nicht unpassend für eine Geschichte über Agoraphobie.