„Trifft ein Mädchen auf einer Schiv’a seinen Sugardaddy …“: Die Handlung von Emma Seligmans Spielfilmdebüt lässt sich erzählen wie ein Kneipenwitz. Die Schlüpfrigkeit, die darin steckt, kontrastiert die Filmemacherin allerdings mit den existenziellen Nöten einer Heranwachsenden – eine nachhaltig beeindruckende Mixtur.
Info
Shiva Baby
Regie: Emma Seligman,
77 Min., USA/ Kanada 2021;
mit: Rachel Sennott, Molly Gordon, Polly Draper
Weitere Informationen zum Film
Einwöchige Trauerzeit nach Begräbnis
Auch Danielles Sugardaddy Max (Danny Deferrari) sagt von sich, dass er gerne junge Unternehmerinnen unterstützt. Die titelgebende Schiv’a ist in jüdischer Tradition die einwöchige Trauerzeit, die mit dem Begräbnis eines nahen Angehörigen oder Freundes beginnt. „Shiva Baby“ schlägt seine Funken aus der Reibung zwischen den beiden Polen: Trauer und Familie auf der einen Seite, sexuelle Macht und Ohnmacht auf der anderen. Letzteres gilt es natürlich geheim zu halten.
Offizieller Filmtrailer
In den Fängen der Familie
Lediglich die Eingangsszene spielt in der Wohnung des Sugardaddys; abgesehen davon genügt Regisseurin Seligman das Haus der Trauerfeier als Drehort. Hier zündet sie ein wahres Feuerwerk an Höhe- und Tiefpunkten. Durch immer neue Peinlichkeiten eskaliert die Lage stets weiter. Die Gefühle der Protagonistin Danielle (Rachel Sennott) changieren zwischen der Lust, sich auszuprobieren, auch in erotischer Hinsicht, und der Erfahrung, ausgeliefert und abhängig zu sein – von Geld, den Eltern und der Tradition.
Aus Danielles Versuchen, dieses Chaos zu beherrschen, ergeben sich brisante Situationen. Das Ergebnis ist eine Screwball-Komödie mit atemberaubender Dramaturgie. Wie in einer Geisterbahn schlängelt sich die Kamera, an Danielle geheftet, durch dicht gedrängt stehende Menschen; deren Gesichter kommen ihr immer wieder viel zu nah. Bei dieser großfamiliären Zusammenkunft stürzt einiges auf sie ein. Lange Zeit weiß sie nicht einmal, wer eigentlich gestorben ist.
Ungeklärtes zerrt an Nerven
Großaufnahmen von Häppchen verschlingenden Mündern, neugierige Augen und übergriffige Anteilnahme lassen ihr keinen Raum. Unmöglich, weiterhin all die Facetten ihres Lebens auseinander zu halten, die sie bisher fein säuberlich getrennt hat. Vor den Fragen, was sie studiert, was sie einmal machen will und ob sie einen festen Freund hat, gibt es kein Entrinnen – zumal in deren Subtext Anklagen und Zurechtweisungen mitschwingen.
Neben dem Stimmengewirr scheint auch der dramatisch dissonante Streicher-Soundtrack mit Danielles Nerven direkt verschaltet. Und die liegen blank – nicht nur wegen der vielen offenen Fragen, die sich aus ihrer Lebenssituation ergeben. Mit Maya (Molly Gordon) taucht zu ihrer Überraschung eine Freundin auf, mit der sie vor kurzem ein sexuelles Verhältnis hatte. Dass dessen Bedeutung nie geklärt worden ist, steht nun im Raum und erfordert manche Verrenkung. Darüber hinaus scheint Maya all das mit Bravour zu bewältigen, was Danielle nicht gelingen will.
Emotionales Wechselbad
Dann taucht zu allem Überfluss auch noch Max auf. Wie sich schnell herausstellt, ist er gut mit Danielles Eltern und der gesamten Mischpoke bekannt. Allerdings kommt er nicht allein, sondern mit seiner jungen, so gutaussehenden wie erfolgreichen Frau und ihrem acht Monate alten Kind – was bei Danielle Eifersucht, Zukunftsangst und Aktionismus auslöst. Immer wieder fehlen die Worte; Smart-Phones werden verloren und wiedergefunden – und dann gibt es auch Tête-à-Têtes im Badezimmer.
Hintergrund
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Genüsslich seziert
Man ist hin und her gerissen zwischen dem Impuls, laut loszulachen oder sich die Hand vor die Augen zu schlagen. In jedem Fall bleibt das Publikum emotional involviert. Wie bei einem guten Witz liegen den Pointen Mechanismen zugrunde, die psychologisch und sozial tief verankert sind. Emma Seligman holt sie in ihrem bemerkenswerten Debüt geschickt an die Oberfläche – um sie dann schön genüsslich zu sezieren.