Nicht nur unser Gegenüber, sondern auch die ganze Welt können wir uns für kurze Zeit schön trinken: eine gelungene Feier im Erwachsenenalter ist ohne Alkohol fast unvorstellbar. Er entspannt und macht wagemutiger – ohne ihn wären manche von uns wohl nicht auf der Welt. Wie vieles, das Spaß macht, ist er aber mit Vorsicht zu genießen. Und den Spaß vermissen die vier Protagonisten in Thomas Vinterbergs neuem Film „Der Rausch“ schon länger.
Info
Der Rausch
Regie: Thomas Vinterberg,
116 Min., Dänemark 2020;
mit: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Lars Ranthe, Magnus Millang
Weitere Informationen zum Film
Evidenzbasiertes Saufen
Da für gebildete Menschen wie sie einfaches Saufen nicht in Frage kommt, muss das Ganze einen seriösen, wissenschaftlichen Anspruch haben. Getrunken wird also nur wochentags bis 20 Uhr, wodurch der vermeintlich leistungssteigernde Pegel gehalten werden soll – ein Plan, den die vier Freunde zunächst auch erfolgreich umsetzen. Für mehr „wissenschaftliche Evidenz“ zur Untersuchung von Skåderuds These braucht es auf die Dauer aber mehr Sprit.
Offizieller Filmtrailer
Lustlos schief
Thomas Vinterbergs Film, der zurecht mit allen wichtigen internationalen Preisen ausgezeichnet wurde, steht ein Zitat des Philosophen Søren Kierkegaard voran: “Was ist die Jugend? Ein Traum. Was ist die Liebe? Der Inhalt des Traums.“ Eben diese Liebe – zum Beruf, zur Partnerin, zu sich selbst und zum Leben an sich haben die vier mittelalten Männer augenscheinlich verloren.
Martin (Mads Mikkelsen) war einmal ein aufstrebender Historiker, leidenschaftlicher Tänzer und liebevoller Familienvater. Nikolaj (Magnus Millang), der jüngste der Truppe, hat drei kleine Kinder und funktioniert nur noch zwischen uninspiriertem Philosophie-Unterricht und häuslichen Vaterpflichten. Sportlehrer Tommy (Thomes Bo Larsen) wurde von seiner Frau verlassen und hat jeden Schwung verloren, während der zurückhaltende Musiklehrer Peter (Lars Ranthe) seinen Chor lustlos schief vor sich hin singen lässt.
Für die Wissenschaft in den Absturz
Der leichte Pegel ändert alles. Der Unterricht wird unkonventioneller und dabei auch für sie selbst wieder spannend. Die Schüler hören plötzlich zu, sie lassen sich von ihren Lehrern mitreißen. Auch im Privaten funktioniert die Kommunikation besser. Im Dienste der Wissenschaft gehen sie aber weiter – bis zum unvermeidlichen Absturz, bei dem einer auf der Strecke bleiben wird. Eigentlich wäre „Suff“ die korrekte deutsche Übersetzung des Originaltitels „Druk“.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Kursk" - fesselndes Dokudrama über Untergang eines Atom-U-Boots von Thomas Vinterberg
und hier eine Besprechung des Films "Die Kommune" - 1970er-Jahre-Sozialstudie von Thomas Vinterberg samt Interview dazu: "Betrunkene haben Weltkrieg gewonnen"
und hier ein Beitrag über den Film "Am grünen Rand der Welt" – viktorianisches Liebesdrama nach Thomas Hardys Romanklassiker von Thomas Vinterberg
und hier einen Bericht über den Film "Die Jagd" – packendes Psycho-Drama von Thomas Vinterberg über Pädophilie mit Mads Mikkelsen.
Alles leichter mit Schwips
Der konsequente Realismus, bei dem Vinterbergs einstige Zugehörigkeit zur „Dogma“-Gruppe („Das Fest“, 1998) deutlich zutage tritt, macht den Film außergewöhnlich. Er zeigt keine Mitleid erregenden Randgestalten, sondern gestandene, intelligente Männer, die durch ihr Experiment zeitweise ins Abseits geraten. Es hilft ihnen aber auch, sich und ihre Umwelt neu wahrzunehmen: Martin kann endlich seine Gefühle ausdrücken – und will als erster aussteigen. In den schönsten Momenten, etwa wenn die Herren Lehrer wieder zu albernen Teenagern mutieren und nachts auf der Straße rangeln, euphorisiert das Zuschauen geradezu – in manchen stark depressiven Szenen tut es beinahe körperlich weh.
Das fühlt sich wie das wahre Leben an, in dem auf schöne übermütige Augenblicke der schlimme Kater folgt. Weil man selbst all diese Momente kennt, empfindet man Sympathie für die Figuren und leidet mit ihnen. Diese Intensität wird von einem großartig agierenden Ensemble getragen – und mit kongenial eingesetzter klassischer Musik und Chören noch verstärkt. So entsteht eine sonst im Film selten erreichte Nähe zu den Figuren, die lange nachwirkt. Am Ende entdecken die Überlebenden ihre Liebe zum Leben erneut und tanzen – mit einem wirklich nur kleinen Schwips. Denn ohne jeden Rausch fehlt dem Leben das gewisse Etwas.