Xavier Dolan

Matthias & Maxime

Matthias ( Gabriel D'Almeida Freitas) und Maxime (Xavier Dolan). Foto: © Pro-Fun Media
(Kinostart: 29.7.) Zwei alte Freunde küssen sich: Welche Folgen es hat, wenn der Kuss echt war, erzählt diese queere Liebesgeschichte. Der frankokanadische Regisseur Xavier Dolan lotet abermals einfühlsam Grenzen und Zwänge zwischen Homo- und Heterosexualität aus.

Zwei junge Männer im Auto an einer Ampel; sie schweigen. Der Fahrer richtet seine Augen starr nach vorne. Der Beifahrer lässt seine Blicke schweifen, bis sie an einem Werbeplakat hängenbleiben – darauf zu sehen ist eine Norm-Familie beim Picknick: Mutter, Vater, zwei Kinder. Sie lächeln alle. Das Gesicht des Beifahrers zeigt keine Regung. Nur seine Augenlider schließen sich ein wenig – als wollten sie einen Schmerz verbergen.

 

Info

 

Matthias & Maxime

 

Regie: Xavier Dolan,

119 Min., Kanada 2019;

mit: Gabriel D'Almeida Freitas, Xavier Dolan, Pier-Luc Funk

 

Weitere Informationen

 

Diese poetische Szene eröffnet Xavier Dolans neuen Film. Danach geht es euphorischer weiter: Die beiden Männer aus dem Auto, Matthias (Gabriel d’Almeida Freitas) und Maxime, gespielt von Dolan selbst, ziehen von Party zu Party – sie feiern ihre alte Freundschaft, bevor Maxime für lange Zeit nach Australien ziehen wird. So landen sie eines Abends mit alten Schulfreundinnen und -freunden auf der Terrasse eines Ferienhauses am See. Sie trinken Wein, rauchen Gras, albern herum, reden wunderbar wirres Zeug. Später sitzen die beiden auf einem Sofa und küssen sich – nicht einfach so, sondern auf Anweisung: Filmstudentin Erika (Camille Felton) dreht einen Kurzfilm, und sie hat die beiden überredet, mitzuspielen.

 

Der Kuss war echt

 

Die überwiegend männliche Abendrunde ist herzlich amüsiert. Diese Szene in Erikas Kurzfilm ist zugleich die Schlüsselszene des gesamten Films – nach ihrem gespielten, aber doch echten Kuss ist alles anders. Matthias, der in Montreal als Anwalt in einer renommierten Kanzlei arbeitet und mit einer Frau verheiratet ist, grübelt nur noch. Er beginnt, an seinem Job zu zweifeln, und meidet zunehmend seinen besten Freund Maxime – der nicht nur unter Matthias‘ Rückzug leidet.

Offizieller Filmtrailer


 

Zum Wegschauen authentisch

 

Maxime hat noch andere Probleme: Immer wieder gerät er heftig mit seiner suchtkranken Mutter (Anne Dorval) in Streit. Doch trotz ihrer aggressiven Zurückweisung kümmert er sich liebevoll um sie. Die Momente, in denen die Mutter ihren Sohn verbal oder körperlich verletzt, sind derart authentisch, dass man wegschauen möchte – wie das Publikum es vom Frankokanadier Dolan gewohnt sind: zuletzt in “Mommy” (Preis der Jury bei den Filmfestspielen in Cannes 2014) oder “Einfach das Ende der Welt” (Großer Preis in Cannes 2016).

 

Anstelle von Körpern werden hier Seelen geschunden – die von Maxim durch unerwiderte Liebe zur Mutter, die von Matthias durch Verzweiflung über das eigene normierte Leben und seine Hemmung, darüber zu sprechen. Überhaupt sind beide ständig damit beschäftigt, ihre Verletzungen zu verbergen. Je näher der Tag des Abschieds kommt, desto weniger gelingt ihnen das. Vor allem Matthias nicht, als er bei Maximes Abschiedsfeier absichtlich zu spät kommt und ihn vor allen Gästen grundlos beleidigt – eine Nahaufnahme auf sein Gesicht verrät, dass gerade etwas in ihm implodiert.

 

Die Abwesenheit von Zärtlichkeit

 

Solche symbolträchtigen close-ups machen den Film zu einem existentiellem Drama: das Werbeplakat zu Beginn des Films, die Musterfamilie – vor allem die Gesichter der Protagonisten. Der Film ist aber auch eine Art Anti-Drama der unterdrückten Sehnsüchte: Matthias und Maxime machen stets das Gegenteil dessen, was ihre Mimik andeutet. Die Erzählung dreht sich um das, was nicht gezeigt, nicht ausgesprochen, nicht unternommen wird.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Einfach das Ende der Welt" - intensives Familien-Drama von Xavier Dolan

 

und hier einen Bericht über den Film "Mommy" – Mutter-Kind-Psycho-Drama von Xavier Dolan

 

und hier eine Besprechung des Films "Sag nicht wer du bist!" – schwuler Psycho-Thriller von Xavier Dolan

 

und hier einen Beitrag über den Film "Laurence Anyways"– romantisches Drama über Transsexualität von Xavier Dolan

 

Aus diesem Vakuum des Uneigentlichen entsteht ein starker Spannungsbogen zwischen Innen und Außen, zwischen den Figuren und der Welt, die auf sie einwirkt. Eine Welt, in der viele Männer von Angst vor dem Inneren und vor dem Fremden geprägt sind – und in Körperpanzern leben, in die nichts hinein-, aber auch nichts hinausdringt. Dem erst 32-jährigen Autorenfilmer Dolan gelingt mit seinem sechsten Spielfilm, der 2019 im Wettbewerb der Filmfestspielen in Cannes lief, trotz weitgehender Abwesenheit von Zärtlichkeit eine Art para-platonischer Liebesfilm.

 

Kollateralschäden der Liebe

 

Sein Film zeigt, was mit Gefühlen passiert, wenn sich mächtige Hetero-Glücksnormen zwischen Ich und Welt schieben: anstatt zu explodieren, implodieren sie eher. Selten ist offen gelebte Liebe zu sehen, stattdessen ihre Kollateralschäden: die Zweifel an der Zuneigung, die Furcht vor Zurückweisung und Verletzung, innere Konflikte und die damit einhergehende Scham. Derartige Aspekte des Daseins treten besonders intensiv bei jenen auf, die nicht heterosexuellen Standards der Gesellschaft entsprechen.