Berlin

Arbeit am Gedächtnis – Transforming Archives

Eduardo Molinari: The Evidence, 2021 . Foto: © Eduardo Molinari / Archivo Caminante. Fotoquelle: Akademie der Künste
Nichts soll verloren gehen: Die Akademie der Künste verwahrt 1200 Künstlernachlässe. Welche Funktion Archive als kulturelle Gedächtnisse haben, zeigt eine enorm facettenreiche, aber auch überladene Ausstellung zum 325. Geburtstag.

Vor 15 Jahren schlug in der Debatte über eine Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses ein angeblicher Archivfund hohe Wellen. Ein 200 Jahre altes Gipsmodell der Berliner Stadtmitte war aufgetaucht; er sollte von Karl Friedrich Schinkel stammen. Das Modell sah einen Teilabriss des barocken Schlosses vor, um den Lustgarten zu einem großen öffentlichen Forum auszuweiten. Es war allerdings eine Fälschung, wie sich herausstellte: listig lanciert von den Architekten Axel Schultes und Charlotte Frank, um mehr Bewegung in die Debatte zu bringen.

 

Info

 

Arbeit am Gedächtnis –
Transforming Archives

 

17.06.2021 - 19.09.2021

täglich außer montags

11 bis 19 Uhr

in der Akademie der Künste, Pariser Platz 4, Berlin

 

Weitere Informationen

 

Tempi passati: Das schiere Gewicht, mit dem der Schloss-Neubau seinen historischen Ort zurückerobert hat, verändert auch unser Zeitgefühl. Die monumentale Pracht scheint immer da gewesen zu sein. Hingegen wirken die Fotos vom abgerissenen Palast der Republik und die alternativen Entwürfe wie aus unendlich fern gerückter Vorzeit.

 

Blick zurück nach Osten

 

Dagegen sträubt sich die Ausstellung „Arbeit am Gedächtnis“ aus Anlass des 325. Geburtstag der Akademie der Künste. Sie zeigt nicht nur das Gipsmodell „im Original“, sondern auch eine Filmprojektion, die Aufnahmen vom Palast der Republik mit der Herrschaftsarchitektur des Schlosses kontrastiert. Drumherum hat Thomas Heise, Direktor der Sektion Medienkunst an der Akademie, einen ganzen Saal mit Archivalien zur Geschichte der Akademie in Ost-Berlin gefüllt.

Künstlergespräch mit Alexander Kluge, Erdmut Wizisla und Johannes Odenthal am 5.6.2021; © Akademie der Künste


 

Netzwerk zur Provinz-Überwindung

 

Ihre Fusion mit der West-Akademie im Jahr 1993 hinterließ ähnliche Narben und Gedächtnislücken wie das Verschwinden des Palastes der Republik. Heise will dagegen mit einer Flut von Dokumenten an die vergessenen korrespondierenden Mitglieder der Ost-Akademie erinnern. Sie knüpfte in den DDR-Jahren ein weltweites Netzwerk von Pablo Picasso über Akira Kurosawa und Peter Weiss bis Ernst Jandl.

 

Im Zuge der Akademie-Fusion wurden die korrespondierenden Mitglieder sang- und klanglos verabschiedet. Diese Geschichte erzählt jedoch viel über das Streben der Ost-Akademie, den Provinzialismus zu überwinden, den die SED-Kulturpolitik den Künstlerinnen und Künstlern in der DDR aufzwang – und über die internen Konflikte innerhalb der Akademie.

 

Installation als Genozid-Beweismittel

 

Um Heises überkomplexer Installation von Archivmaterial in die feinen Verästelungen zu folgen, muss man wenigstens eine Stunde lang lesen. Ohnehin braucht man viel Zeit für die gesamte Ausstellung, die aus den Sälen in die Foyers, durchs Treppenhaus bis zum Dach und in die Kellergeschosse mäandert.

 

Ein Kaleidoskop zu den Themen Erinnern, Vergessen und Archivieren wird hier aufgeboten, so vielschichtig wie die Debatten über Begriffe, Straßennamen oder Museumsstücke, die plötzlich als historisch belastet gelten. Im Sinne des Postkolonialismus ordnet Eduard Molinari Fotos und Dokumente, die den Genozid an einem indigenen Anden-Volk als langen historischen Prozess erkennbar machen: „Beweismittel“ heißt seine Installation.

 

Archiv-Karussell + Adorno-Kalauer

 

Nebenan verteilt Arnold Dreyblatt Akademie-Archivalien so kunstvoll im Raum, dass beim besten Willen kein Sinn darin zu erkennen ist. In Anlehnung an John Cage soll dieses „Archiv-Karussell“ die Objekte aus jeder hierarchischen Ordnung befreien. Im selben Raum reflektiert eine Filminstallation von Cemile Sahin die Prägung der kulturellen Überlieferung in einer Diktatur. Zu sehen sind drei Irakerinnen, die sich einmal im Jahr treffen, um den Sturz von Saddam Hussein zu feiern. Sie erzählen von der Empfindung, in der Selbstinszenierung seines Regimes gewesen gefangen zu sein.

 

Zum Auftakt der Ausstellung hat Candice Breitz in ihrer Videoinstallation „Digest“ etliche bespielte VHS-Videokassetten versiegelt und die Schutzhüllen einheitlich schwarzweiß überarbeitet. Nun wirken sie wie kleine Särge – Sinnbilder der Vergänglichkeit eines überholten Speichermediums. Auf diese stumme Arbeit folgt eine verwirrende Bildercollage von Alexander Kluge, aus deren Zerfaserung zumindest ein netter Adorno-Kalauer heraus sticht: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen Hasen.“

 

„Echolot“ aus transparentem Plastik

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ – monumentale Doku über deutsches Geschichtsbewusstsein im 20. Jahrhundert von Thomas Heise

 

und hier eine Besprechung der Ausstellungen „Alexander Kluge: Pluriversum + Gärten der Kooperation“ – Retrospektiven zum 85. Geburtstag des Filmemachers in Essen, Wien + Stuttgart

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "ATLAS: How to Carry the World on One’s Back" über Künstler-Archive, kuratiert von Georges Didi-Huberman, im ZKM, Karlsruhe.

Das Archiv der Akademie umfasst 1200 Künstlernachlässe. Daraus werden diverse Belege für produktive Erinnerungsarbeit ausgebreitet: ein Zettel mit Walter Benjamins Reflexion „Ausgraben und Erinnern“ von 1932, die Selbstvergewisserung des eigenen Lebens in den „Arbeitskurven“ von Käthe Kollwitz oder Dokumente zu Mary Wigmans „Tanz der Erinnerung“. Von Walter Kempowski stammt ein Setzkästchen aus transparentem Plastik mit winzigen Menschenfigürchen: Vorbild für sein „Echolot“, in dem er ein literarisches Mosaik über den Zweiten Weltkrieg aus unzähligen Einzelstimmen zusammensetzte.

 

Black life matters: Die Schriftstellerin Ulrike Draesner hat im Akademiearchiv nach den Stimmen nichtweißer Menschen gesucht. Ihr Befund einer Leerstelle verrät, dass auch dieses Archiv eine „Geschichte der Sieger“ schreibt: „Die Stimmen jener, die sich durchgesetzt haben, sind bewahrt. Die Stimmen der Verlierer aber sprechen mit. Sie sind die Schmuggelware eines Archivs.“ Denn es enthält Beweismittel, die ein Umschreiben der Geschichte begründen können.

 

Kontakt mit Alzheimer-Tänzerin

 

Im dritten Untergeschoss, tief unter dem Pariser Platz, herrscht plötzlich eine meditative Stimmung. Robert Wilsons minimalistische Filminstallation zeigt Gesicht, Hände und Füße der japanischen Tänzerin Suzushi Hanayagi. Als Wilson sie aufnahm, war sie von der Alzheimer-Krankheit fast vollständig gelähmt.

 

Doch dem Regisseur gelang es, Hanayagi durch Gesten an die gemeinsame Theaterarbeit zu erinnern und mit ihr in Kontakt zu treten. Ihre letzten, von Wilson aufgezeichneten Tanzgesten („Dancing in my mind“) berühren. Am Ende sind es immer die einfachen Geschichten, die lange im Gedächtnis haften bleiben.