Minsu Park

Chaddr – Unter uns der Fluss

Tibetische Gebetsfahnen über dem Flusstal: Der Zanskar ist die Lebensader dieser gebirgigen und unwirtlichen Region in Ladakh. Foto: FilmKinoText
(Kinostart: 19.8.) 100 Kilometer Schulweg: In der Himalaya-Region Ladakh führt winters nur der Gang über Fluss-Eis zurück ins heimische Dorf. Regisseur Minsu Park begleitet eine Schülerin und zeigt das mühsame Dasein ihrer Familie – sie leidet unter dem Klimawandel.

Im indischen Teil des Himalaya lebt die Familie von Tsangyang Tenzin im abgelegenen Dorf Zangla. Die Straße nach Leh, Provinzhauptstadt der Region Ladakh, ist nur im Sommer passierbar. Wenn Tsangyang, die in Leh ins Internat geht, in den Winterferien nach Hause will, gibt es nur eine Möglichkeit: Sie muss dem Lauf des Flusses Zanskar folgen; der Lebensader der Region, die sich durch steile Schluchten windet.

 

Info

 

Chaddr – Unter uns der Fluss

 

Regie: Minsu Park,

88 Min., Indien/ Deutschland 2020;

mit: Tsangyang Tenzin, Tundup Tsering 

 

Weitere Informationen zum Film

 

Wenn der Fluss im Winter teilweise überfriert, dient das Eis als einzige begehbare Passage. Doch das Eis ist mitunter brüchig, voller Sackgassen, und die Verhältnisse ändern sich ständig. Dieser Weg heißt „Chaddr“ und ist mittlerweile  auch bei Extremtouristen beliebt. Tsangyangs Vater muss ihn dagegen alljährlich gehen, um seine Tochter aus dem Internat abzuholen und sicher nach Hause zu geleiten.

 

Schulalltag + Bauernleben

 

Ein Team um den koreanischen Regisseur Minsu Park, der in München studierte, hat Vater und Tochter auf ihrem 100 Kilometer langen Fußweg begleitet; diese beschwerliche Reise ist das Herzstück des Dokumentarfilms. Eingebettet wird es in eine Einführung in Tsangyangs Schulalltag und die Darstellung des entbehrungsreichen Lebens der Bergbauern in Ladakh, das in der letzten Zeit noch etwas schwerer geworden ist.

Offizieller Filmtrailer


 

Kein Schnee, zuviel Regen

 

Da in den vergangenen Jahren häufig der Schneefall ausblieb, gibt es nicht genug Wasser für die Felder. Wenn Starkregen dann an einem oder wenigen Tagen vom Himmel prasselt, kann das die magere Ernte auch noch wegspülen. So geschah es bei Tsangyangs Familie; so erzählen es Vater und Mutter lakonisch, während sie ihr unermüdlich ihr Tagwerk verrichten.

 

Sie hoffen, dass ihre Tochter das begehrte Stipendium für ein Hochschulstudium erringt, denn eine Zukunft in Zangla sehen sie für sie nicht. Eine neue Straße ist zwar im Bau. Doch in der Zwischenzeit ist das Eis auf dem Chaddr durch die warmen Winter noch dünner und der Weg noch gefährlicher geworden.

 

Wie Kinofilm zu TV-Serie

 

„Die gefährlichsten Schulwege der Welt“ heißt eine „arte-Doku“-Reihe in drei Staffeln; darin müssen Kinder auf ihrem Schulweg in Äthiopien, im Himalaya oder in den Anden regelmäßig halsbrecherische Abenteuer bestehen. „Chaddr“ darf als Kinofilm dieses Formats gelten und verhält sich etwa wie „Akte X – Der Film“ zur dazugehörigen Mystery-TV-Serie: Er bietet mehr Raum für Erzählungsaufbau, kostspielige Aufnahmen, Charaktere und Kontext.

 

Zugleich schlagen auch die Schwächen der TV-Serie im Film noch deutlicher durch: zum Beispiel ermüdende Gitarren-Zupfklänge auf der Tonspur, die mitunter im krassen Widerspruch zu Tsangyangs Angst und Erschöpfung auf dem Weg stehen. Bedrohlichere Töne sind einer Touristengruppe vorbehalten, die den Wanderern unterwegs begegnet – sie lässt ihren Müll auf dem Weg nach Zangla einfach liegen. Ein einprägsamer Moment des Films; ansonsten verwendet Regisseur Park ausgiebig den TV-erprobten Wechsel zwischen erhabenen Landschaftsaufnahmen und respektvoller Schilderung des einfachen Lebensstils.

 

Besser als Youtuber-Nabelschau

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Adern der Welt" – anschaulich-einfühlsamer Öko-Krimi aus der Mongolei von Byambasuren Davaa

 

und hier einen Beitrag über den Film "Pawo" – optisch opulentes Doku-Drama über tibetischen Widerstand gegen China von Marvin Litwak

 

und hier eine Besprechung des Films "Nomaden des Himmels" – sensibles Porträt von Pferdezüchtern in Kirgistan von Mirlan Abdykalykov

 

und hier ein Bericht über die Ausstellung "Indiens Tibet – Tibets Indien" – hervorragende Überblicks-Schau über das kulturelle Erbe im Westhimalaya, u.a. der Region Ladakh, im Linden-Museum, Stuttgart.

 

 

Angenehm ist dabei die unaufdringliche Nähe zwischen Kamera und Protagonisten-Familie. Auch wenn sie mitunter offensichtlich inszeniert sind, gelingen hier Szenen, die mit den schönsten Dokumentarfilmen von Werner Herzog mithalten können: In manchen Augenblicken hält die laufende Kamera einfach Erstaunliches fest. Damit steht der Film in der Tradition von semidokumentarischen Spielfilmen wie „Die Geschichte vom weinenden Kamel“ (2003) der mongolischen Regisseurin Byambasuren Davaa.

 

Das ist dem derzeit vorherrschenden Format von Reisefilmen der Youtuber-Generation vorzuziehen, in denen Globetrotter, die mit Fahrrad, Wandergitarre, Moped oder Motor-Flugdrachen durch die Welt ziehen, pausenlos von sich selbst erzählen – um anschließend mit ihrem Film, den sie während des Corona-Lockdowns geschnitten haben, bundesweit durch die Kinos zu tingeln und noch mehr über sich zu erzählen.

 

Klimawandel schreibt Zukunft

 

In nahezu nostalgischer Weise stellt dieser Film das genaue Gegenteil dar: die nahe Beobachtung und dichte Beschreibung einer fremden Lebenswelt, deren Bewohner ausführlich selbst zu Wort kommen. Somit wird „Chaddr – Unter uns der Fluss“ schließlich zu mehr als nur „Die gefährlichsten Schulwege – Der Kinofilm“ – nämlich zur Eloge auf Schönheit und Reize einer entlegenen Region, deren Zukunft vom Klimawandel geschrieben werden wird.