Mohammad Rasoulof

Doch das Böse gibt es nicht

Pouya (Kaveh Ahangar) soll jemanden töten. Foto: Grandfilm
(Kinostart: 19.8.) Im Angesicht der Todesstrafe: In vier Episoden dekliniert der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof durch, wie sich Individuen vor Hinrichtungen verhalten. Sein Berlinale-Gewinnerfilm 2020 beeindruckt durch existentielle Wucht und grausige Aktualität.

In der biblischen Offenbarung des Johannes bringen vier apokalyptische Reiter Tod und Verderben. Im Film von Mohammad Rasoulof sollen vier Männer Todesurteile vollstrecken. Zwei exekutieren sie, zwei weigern sich; doch alle vier zahlen einen hohen Preis.

 

Info

 

Doch das Böse gibt es nicht

 

Regie: Mohammad Rasoulof,

150 Min., Iran/Deutschland/Tschechien 2020;

mit: Ehsan Mirhosseini, Kaveh Ahangar, Mohammad Valizadegan

 

Weitere Informationen zum Film

 

Dabei beginnt der Episodenfilm geradezu geruhsam. Im ersten Teil beendet Heshmat (Ehsan Mirhosseini) seine Schicht in der Haftanstalt. Heshmat ist ein gesetzter 40-Jähriger, der sich fürsorglich um seine Familie kümmert. Mit dem Wagen holt er seine Frau, eine Lehrerin, und die Tochter von der Schule ab. Zu dritt kaufen sie im Supermarkt ein und gehen Pizza essen – ein ganz normaler Tag. Zwischendurch rettet Heshmat ein Kätzchen, das sich zwischen Heizungsrohren verirrt hat. Doch nachts um drei Uhr beginnt die nächste Schicht, in der er seinem blutigen Handwerk nachgeht.

 

Gefängniswärter rebelliert

 

Dagegen arbeitet Pouya (Kaveh Ahangar) gegen seinen Willen im Gefängnis: Er muss dort seinen Wehrdienst ableisten. In dieser Nacht soll er einen Häftling hinrichten. Um dem zu entgehen, setzt Pouya alles Mögliche in Bewegung; erst will er seine Versetzung erreichen, dann einen Kameraden bestechen, der an seine Stelle treten soll. Nichts hilft. Schließlich rebelliert Pouya, überwältigt andere Aufseher und flieht trickreich aus der Haftanstalt. Draußen wartet seine Freundin Tamineh im Fluchtauto – aber ohne Pässe können sie den Iran nicht verlassen.

Offizieller Filmtrailer


 

Verlobter war Henker

 

Ebenso seinen Wehrdienst absolviert Javad (Mohammad Valizadegan): Während eines kurzen Sonderurlaubs besucht er in einem Walddorf seine Verlobte Nana an ihrem Geburtstag. Doch Nanas Familie ist in Trauer: Ein von ihr verehrter politischer Aktivist ist exekutiert worden. Bald wird klar, dass ausgerechnet Javad die Hinrichtung vollstreckt und dafür Sonderurlaub erhalten hat. Aus Scham will er sich ertränken. Nana findet ihn und versorgt ihn mit dem Nötigsten – um ihn dann zu verlassen.

 

Der vierte Teil dreht sich um Bahram (Mohammad Seddighimehr) und Zaman; sie leben seit 20 Jahren zurückgezogen im Bergland. Beide werden besucht von Darya (Baran Rasoulof, Tochter des Regisseurs); die junge Exil-Iranerin lebt in Deutschland. Nach wenigen Tagen erfährt sie, dass Bahram ihr leiblicher Vater ist – ihr vermeintlicher Vater in Europa hingegen ihr Onkel. Bahram hatte als Soldat eine Hinrichtung verweigert und war geflohen; seither lebt er im Verborgenen. Zudem hatte er veranlasst, dass Darya ins Exil geschickt wurde; ihre Mutter starb bei der Flucht aus dem Iran.

 

Abo für Schuld + Sühne

 

Mögen die vier Episoden auf dem Papier etwas konstruiert wirken, im Film gewinnen sie enorme Prägnanz. Auf moralische Grenzsituationen und messerscharfe Fragen nach Schuld und Sühne ist der iranische Autorenfilm gleichsam abonniert – aber kein Regisseur stellt sie mit solch existentieller Wucht wie Mohammad Rasoulof.

 

Während der zweifache Oscar-Gewinner Asghar Farhadi sich stets auf private Beziehungen beschränkt, der vom Regime in Teheran verfolgte Jafar Panahi auf Nischen-Themen ausweicht und Bahman Gohbadi als Kurde offenbar größere Spielräume hat, geht Rasoulof die politischen Verhältnisse im Iran frontal an – mit diesem Film direkter als je zuvor.

 

Haftstrafen + Reiseverbot

 

Das hat ihm viel Ärger mit der Justiz eingebracht. Er wurde mehrmals zu Haftstrafen verurteilt, die er aber bislang nicht antreten musste. 2017 erhielt er ein Ausreiseverbot, das bis heute gilt; bei der Berlinale 2020 nahm an seiner Stelle seine Tochter Baran den Goldenen Bären entgegen.

 

Trotz dieser Schikanen setzt der Regisseur seinen Weg mit beeindruckender Konsequenz fort. Während „Good Bye“ (2011) als zeit- und ortlose Überwachungs-Parabel durchgehen konnte und „Manuscripts don’t burn“ (2013) wie „A Man of Integrity“ (2017) noch gleichnishafte Stilisierungen aufwiesen, wählt Rasoulof diesmal schnörkellosen Realismus.

 

Banaler kann Böses kaum sein

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "A Man of Integrity – Kampf um die Würde" - komplexes Korruptions-Drama von Mohammad Rasoulof

 

und hier einen Bericht über den Film "Manuscripts don’t burn" – lakonische Parabel über Geheimdienst-Morde im Iran von Mohammad Rasoulof

 

und hier das Interview "Filme im Gefängnis machen" mit Regisseur Mohammad Rasoulof über seinen Film “Good Bye“, eine Auswanderungs-Parabel in Teheran

 

und hier einen Bericht über den Film "Jahreszeit des Nashorns" – brilliantes Polit-Psychodrama über Exil-Iraner in der Türkei von Bahman Ghobadi.

 

Einer Experimentreihe ähnlich, spielt er mögliche Reaktionen auf die Zumutung durch, auf Befehl töten zu müssen. Wer das aus Gewissensgründen verweigert, mag sich ihr momentan entziehen. Er kann aber künftig im Iran nur eine Randexistenz fristen – und bürdet dessen Folgen auch seinen Angehörigen auf.

 

Umgekehrt wird, wer die Befehle ausführt, aus Sicht integrer Mitmenschen unwiderruflich stigmatisiert. Perverserweise gelingt es nur dem Henker Heshmat, ein geordnetes Leben zu führen, indem er das Morden völlig davon abspaltet. Banaler kann das Böse nicht auftreten – sarkastischer hätte Rasoulof seinen Film kaum betiteln können.

 

Grausige Aktualität

 

Dass er aus einzelnen Episoden zusammengesetzt ist, dürfte pragmatisch begründet sein: Der Regisseur könnte ihre Drehbücher separat bei der Zensur eingereicht haben – sie prüft Kurz- anders als Langfilme. Dennoch runden sich die scheinbar unverbundenen Teile zu einem Kaleidoskop des Schreckens. Nach China mit etwa 5000 Opfern jährlich werden im Iran die meisten Todesurteile weltweit vollstreckt: mehr als 300 pro Jahr.

 

Künftig könnten es noch mehr werden. Der neue Staatspräsident Ebrahim Raisi, Anfang August gewählt, gilt als Hardliner. Er soll für Massenhinrichtungen 1988 mitverantwortlich sein, bei denen mehrere Tausend Gefangene starben. Dieser Wechsel an Irans Staatsspitze und die Machtübernahme der Taliban im Nachbarland Afghanistan verleihen „Doch das Böse gibt es nicht“ grausige Aktualität.