
Ein kurzes Zucken durchdringt die alten Bilder. Die Zersetzung des Zelluloids ist bereits fortgeschritten, obwohl das eigentliche Drama noch in den Startlöchern steckt. Dennoch beeindrucken die eingefärbten Archivaufnahmen des italienischen Anarchisten Errico Malatesta, mit denen Regisseur Pietro Marcello seinen Film eröffnet, nachhaltiger als jeder fiktionale Blick zurück in die Vergangenheit.
Info
Martin Eden
Regie: Pietro Marcello,
129 Min., Italien/ Frankreich/ Deutschland 2019;
mit: Luca Marinelli, Jessica Cressy, Vincenzo Nemolato
Bildung als Chance
Als irrlichternder Individualist scheitert er an sich und seinen Idealen. Schließlich verrät er die Arbeiterklasse, aus der er stammt: indem er einen schrankenlosen Individualismus predigt, der nur ihre Ausbeutung befördert. Die Vorlage des Films ist ein autobiografisch gefärbter Roman des US-Schriftstellers Jack London von 1909; er hat ihn als Parabel angelegt. „Martin Eden“ porträtiert einen Menschen, der alles daran setzt, mittels eigenhändig erworbener Bildung gesellschaftlich aufzusteigen, berühmt zu werden und ein komfortables Leben zu führen.
Offizieller Filmtrailer
Zeitebenen fließen ineinander
Im Wesentlichen behalten Marcello und sein Ko-Autor Maurizio Braucci im Drehbuch die Romanhandlung bei: Sie beschreibt den Aufstieg und Fall eines Seemanns (Luca Marinelli), der aus Liebe zur höheren Tochter Elena Orsini (Jessica Cressy) alle Klassenschranken überwindet. Beim hartnäckigen Werben um das Herz seiner Angebeteten schult er sich eifrig, entdeckt sein Talent für literarisches Schreiben und beginnt erst euphorisch, später verzweifelt nach dem «Wahren» zu suchen – dem richtigen Leben in einer heillosen Welt.
Während Londons Romanheld zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Kalifornien wohnt, kehrt Marcello für den Film in seine neapolitanische Heimatregion zurück. Sowohl Kleider und Kulissen als auch der wechselnde Einsatz diverser Stilmittel lassen zudem die Zeitebenen überzeugend ineinander fließen – behände wechselt die Erzählung die Jahrzehnte und Darstellungsformen.
Neue Grenzen zwischen Doku + Drama
16-Millimeter-Aufnahmen sind durchsetzt mit Super-8-Bildern, found footage und home movies: Ihre grobkörnige Ästhetik beschwört vergangene Zeiten herauf. Dabei verschmelzen Orte, Epochen und Moden auf virtuose Weise ähnlich nahtlos und unaufhaltsam wie die politischen Theorien und privaten Illusionen des strebsamen Autodidakten.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Ruf der Wildnis" - gelungene Verfilmung des Abenteuerromans von Jack London durch Chris Sanders
und hier eine Besprechung des Films "Tu nichts Böses – Non essere cattivo" – fesselnde Sozialstudie über Kleindealer in Ostia von Claudio Cagliari mit Luca Marinelli
und hier einen Beitrag über den Film "Die Einsamkeit der Primzahlen" - Drama über unerfüllte Jugendliebe von Saverio Constanzo mit Luca Marinelli
und hier ein Bericht über den Film "Jimmy’s Hall" – Klassenkampf-Drama im Irland der 1930er Jahre von Ken Loach.
Erfolg als Tragödie
Dabei lebt Marcellos Film vor allem von der phänomenalen Präsenz seines Hauptdarstellers. Luca Marinelli spielt seine Entwicklung vom eifrigen jungen Mann mit politischem Bewusstsein bis zum verrauchten und verbrauchten Erfolgs-Autor mit großer Empathie und vollem Körpereinsatz. Mal mit fiebriger Sehnsucht und Zärtlichkeit, mal mit hellwach flackerndem Blick: Diese Rolle ist ihm auf den Leib geschrieben.
Am Ende von zwei Stunden intensivem Kino hat das Publikum nicht nur ein ganzes Leben mitverfolgt und dabei mit einem starken Charakter geliebt, gelernt, gehadert und gelitten. Es hat auch die Begeisterung und Enttäuschungen eines ganzen Zeitalters noch einmal miterlebt. Dieser so kraftvolle wie elegant inszenierte Film entlässt den Zuschauer mit der Einsicht, dass nicht nur Scheitern, sondern genauso maßloser Erfolg zur persönlichen Tragödie werden kann.