Wie schmeckt wanderndes Gemüse? Wir essen es jeden Tag; in den Supermärkten quellen die Regale davon über. Oft reisen Paprika, Zucchini, Salate und vor allem Zitronen aus der Region Murcia im Südosten Spaniens an: Deutschland gehört zu den Hauptabnehmerländern der dortigen Frischkost-Produktion.
Info
Murcia: Im Garten Europas
06.08.2021 - 27.02.2022
täglich außer montags 10 bis 17 Uhr,
am Wochenende 11 bis 18 Uhr
im Museum Europäischer Kulturen, Arnimallee 25, Berlin-Dahlem
Keine Folklore-Reise
Eine spannende und wenig bekannte Gegend auf Europas Landkarte hat sich das Museum Europäischer Kulturen ausgesucht, um sie in einer vielschichtigen Ausstellung zu beleuchten; zudem wird sie bei den „Europäischen Kulturtagen“ mit allen Sinnen erfahrbar. Dass dies keine idyllische Reise durch folkloristische Gefilde wird, stellt die Ausstellungsarchitektur schon am Eingang klar.
Región de Murcia, Legado Vivo: Impressionen aus Murcia (auf Spanisch)
Transportkisten als Allzweck-Zubehör
Wie frisch vom Großmarkt angeliefert stapeln sich bis unter die Decke stabile grüne Kunststoffkisten, in denen sonst Obst und Gemüse transportiert werden. „Absolut nachhaltig“, so Direktorin Elisabeth Tietmeyer: Die Klappboxen werden nach Ausstellungsende wieder in den Waren-Kreislauf eingespeist. Jetzt dienen sie als Sockel und Vitrinen, bestückt mit Fotos, Kurztexten, Videobildschirmen und Alltagsdingen von der Stielhacke bis zur Kleidung. Aber, betont die Ethnografin: „Die Hauptrolle spielen bei uns Menschen, nicht Objekte.“
In Interviews und Kurzfilmen kommen Murcias Einwohner zu Wort. Außerdem durchstreifte der Fotograf Göran Gnaudschun die Region. Seine unspektakulären, ruhigen Aufnahmen zeigen zermatschte Orangen, Ferienhäuser aus Beton, karge weite Landschaften und Gesichter. Zum Beispiel Amigr und Anass aus Marokko; sie blicken ernst und cool unter ihren Basecaps hervor. Oder Hildaria: Die junge Frau aus Venezuela floh vor der Mafia.
Golfen verschärft Wasserknappheit
Der betagte Pepe hingegen arbeitete 31 Jahre in Süddeutschland bei der Post, bevor er in seine spanischen Heimat zurückkehrte. Sie alle suchen „das bessere Leben“ – so der Titel dieser Fotoserie. Murcias Migranten kommen mit oder ohne (Arbeits-) Erlaubnis, mit leeren Taschen oder einer auskömmlichen Rente. Dabei nimmt die Altersmigration in Murcia zu, berichtet der in Spanien lebende Anthropologe Klaus Schriewer. Wer zum Urlauben kommt, bleibt oft auf Dauer – Golfanlagen verschärfen die Wasserknappheit der Region.
Dass diese Region auch eine Jahrtausende alte Geschichte mit Kulturkontakten zu Syrern, Römern, Karthagern, Westgoten und Mauren hat, blitzt in der facettenreichen Schau nur am Rande auf. Kunsthistorische Exkurse oder architektonische Sehenswürdigkeiten fehlen. Stattdessen erzählen Alltagsgegenstände vom Leben vor Ort und den in ihnen gespeicherten Traditionen und Erinnerungen.
Flechtkörbe aus Esparto-Gras
Fast mannshoch ist ein bauchiges Tongefäß aus dem Garten eines alten Landarbeiter-Hauses. Eine metallene Schöpfkelle baumelt daran: Aus solchen „Tinajas“ schöpfte die Landbevölkerung früher das gesammelte Regenwasser – auch zum Trinken. Ein graziler Flechtkorb, einer Reuse ähnlich, macht die Besucher mit dem regionaltypischen Pflanzenmaterial Esparto-Gras bekannt. Früher wurden mit solchen Körbchen Schnecken gefangen; heute werden sie vorrangig als Deko-Objekte verkauft.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Mediterranea" – authentisches Drama über Obstpflücker-Immigranten in Süditalien von Jonas Carpignano
und hier einen Bericht über den Film "Black Brown White" – Roadmovie über illegale Einwanderung in Spanien von Erwin Wagenhofer
und hier einen Beitrag über den Film "8 Namen für die Liebe" – rasante spanische Culture-Clash-Komödie von Emilio Martinez.
MU heißt: in Murcia gereift
Pointiert werden in der Ausstellung Aspekte von Gegenwart und Geschichte miteinander verflochten. Da scheppert aus einem Kopfhörer Metall auf Metall, herber Gesang mischt sich unter Industriegeräusche. Seit der Römerzeit wird in Murcia Bergbau betrieben; damals vor allem für Silber, Zinn und Blei. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde vor allem das Mineral Pyrit abgebaut, um daraus Schwefelsäure herzustellen. Aus dem Gesang der Minenarbeiter entstand eine spezielle Form des Flamencos. „El cante de las minas“ heißt das ihm gewidmete Festival in der Stadt La Unión.
Historische Fotografien fügen sich in das Mosaik aus Objekten und Geschichten. Die im 19. Jahrhundert aufgenommen Szenen von Landleuten bedienten oft schon damals Stereotype. Dem wollen die Kuratorinnen entgegen wirken: Unscheinbarstes Objekt ist ein schlaffes, leeres Zitronennetz. Der nebenstehende Text ermuntert dazu, die Kürzel auf dem Etikett genauer zu studieren. Steht etwa „MU“ darauf? Dann sind die Früchte unter der Sonne von Murcia gereift.