Lars Eidinger

Nahschuss

Franz Walter (Lars Eidinger) in der Haftanstalt. Foto: Alamode Film
(Kinostart: 12.8.) Das letzte Todesopfer der DDR-Justiz: Der Ex-Stasi-Offizier Werner Teske wurde 1981 hingerichtet. An seine Biographie ist der Film von Regisseurin Franziska Stünkel angelehnt – ein beklemmendes Psychodrama über Gewissensnöte in einem totalitären Regime.

Mehr als 30 Jahre nach dem Ende der DDR gibt es immer noch etliche kaum bekannte Aspekte, die einer filmischen Aufarbeitung harren: etwas das letzte, 1981 unter Ausschluss der Öffentlichkeit vollstreckte Todesurteil. Der Hingerichtete hieß Werner Teske; er war ein ehemaliger Stasi-Offizier im Dienst des DDR-Auslandsgeheimdienstes. An ihm wurde für Eingeweihte ein Exempel statuiert.

 

Info

 

Nahschuss

 

Regie: Franziska Stünkel,

116 Min., Deutschland 2021;

mit: Lars Eidinger, Devid Striesow, Luise Heyer

 

Webesite zum Film

 

An Teskes Biografie orientiert sich locker der Film von Regisseurin Franziska Stünkel. Er bietet einmal mehr Lars Eidinger als Hauptdarsteller eine perfekte Spielfläche, um die Abgründe seiner Figur in alle Winkel auszuloten. Franz Walter ist ein aufstrebender Wissenschaftler, der sich auf ein Jahr Studienaufenthalt in Äthiopien freut, um danach den Lehrstuhl seiner Professorin zu übernehmen.

 

Kicker-Observierung statt Addis-Flug

 

Am letzten Abend vor der Abreise macht er seiner Freundin Corina (sehr berührend: Luise Heyer) noch einen Heiratsantrag. Doch den Flug nach Addis Abeba wird er nicht antreten. Er ist stattdessen für die „Hauptverwaltung Aufklärung“ (HVA) vorgesehen, wie ihm kurz darauf sein neuer Vorgesetzter Dirk Hartmann (schön zwielichtig: Devid Striesow) eröffnet. Seine Aufgabe: Als Amateurfußballer soll er den Profispieler Horst Langfeld aushorchen, der sich nicht ideologisch auf Linie bringen lassen will.


Offizieller Filmtrailer


 

Ernüchtert in den Alkohol fliehen

 

Als Belohnung winken jede Menge Privilegien und sogar Reisen ins westliche Ausland. Franz Walter nimmt das Angebot an, weil er im Grunde davon überzeugt ist, das Richtige zu tun. Erste Risse bekommt sein Weltbild durch eine Reise nach Hamburg, wohin Profikicker Langfeld sich inzwischen abgesetzt hat. Dadurch wird er die Zielperson mehrerer konspirativer Aktionen, die Hartmann einfädelt.

 

Diese haben jedoch nichts mehr mit Beschaffung von Informationen über den Klassenfeind zu tun, sondern gefährden bewusst Menschenleben. Das empfindet Franz als unvereinbar mit seinem durchs Elternhaus humanistisch geprägtem Gewissen. Er flüchtet sich in den Alkohol und entfremdet sich zusehends von Corina, mit der er inzwischen verheiratetet ist. Auch bei der Truppe bemerkt man sein nachlassendes Engagement und beobachtet ihn. Als einziger Ausweg erscheint ihm schließlich, in den Westen überzulaufen; möglichst mit geheimem Material in der Hand.

 

Eheringe mit Kuli malen

 

Bereits zu Anfang stellt Regisseurin Stünkel klar, dass sie kein großes historisches Panorama des untergegangen Staates im Sinn hat. Sie richtet ihren Blick auf die Nischengesellschaft, zeigt Franz und Corina in inniger, selbstvergessener Zweisamkeit. Als glückliches Paar, für das mit Kugelschreiber auf die Finger gemalte Ringe verbindlich sind; weitere Zeichen ihrer Verbundenheit braucht es nicht.

 

Doch Franz’ Arbeit, von der weder Corina noch sonst jemand etwas wissen darf, verlangt ein familiäres Unterpfand, das ihn im Bedarfsfall erpressbar macht. Zunächst will Franz das nicht wahrnehmen. Er sieht nur eine verheißungsvolle Perspektive, die nach dem Dienst an der sozialistischen Heimat auf ihn wartet. Franz genießt die Annehmlichkeiten seines Jobs, etwa eine neue schicke Wohnung; er findet sogar Gefallen an der Geheimnistuerei der HVA-Truppe.

 

Vom Täter zum geistigen Überläufer

 

Sie gibt sich als eingeschworene Gemeinschaft. Die Kollegen feiern auch zusammen, unbeeindruckt von der realsozialistischen Außenwelt, die nur als Gegenstand der Beobachtung wichtig scheint. Nur Franz’ bürgerlicher Vater wundert sich über dessen schnellen Aufstieg. Die Beschränkung seines sozialen Umfelds auf das unsympathische und spießige Stasi-Milieu ermöglicht der Regisseurin, sich auf Franz’ innere Zerrissenheit zu konzentrieren: seine Wandlung vom Täter zum zumindest geistigen Überläufer.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Persischstunden" - fiktives KZ-Drama von Vadim Perelman mit Lars Eidinger

 

und hier ein Bericht über den Film "Das Schweigende Klassenzimmer" - Historiendrama über den Widerstand einer DDR-Schulklasse von Lars Kraume

 

und hier einen Beitrag über den Film "Das Geständnis" – fesselndes Kammerspiel über die DDR-Justiz von + mit Bernd Michael Lade

 

und hier eine Besprechung des Films "Und der Zukunft zugewandt" - Drama über eine DDR-Rückkehrerin aus dem Sowjet-Gulag von Bernd Böhlich.

 

Eidingers Spielweise, von vielen als zu affektiert kritisiert, ist dafür wie geschaffen. Zudem findet Stünkel für seine Ohnmacht in dem von ihm mitgetragenen Unterdrückungs-Apparat berührende Bilder. So tanzt Franz mit dem Walkman am Ohr auf seinem Balkon zu Rio Reisers Ballade „Halt dich an deiner Liebe fest“. Da wird er bereits von seinen Noch-Kollegen überwacht – zugleich hat ihn seine Corina bereits aufgegeben.

 

Menschenverachtende Manipulationen

 

In anderen Kontexten könnte das kitschig wirken; hier zeigt es wirkungsvoll den schmalen Grat, auf dem sich die Hauptfigur bewegt. Indem der Film sich auf ihre Privatsphäre fokussiert, vermeidet er auch die Gefahr einer DDR-Ausstattungsorgie – auch wenn um 1980 die Inneneinrichtung ostdeutscher Wohnungen nicht nur in Brauntönen gehalten war.

 

„Nahschuss“ bietet also keine historisch korrekte Geschichtsaufarbeitung. Sondern eher eine psychologisch plausible Studie über zynische Manipulationen in einem totalitären Regime, das Menschen vernichten konnte – für das aber nicht alle Staatsangestellten über Leichen gehen wollten.

 

Besser als „Leben der Anderen“

 

Damit übertrifft dieser Film den thematisch ähnlichen Oscar-Gewinner „Das Leben der Anderen“ (2006) von Florian Henckel von Donnersmarck. Regisseurin Stünkel will nicht mit Hollywood wetteifern, sondern entwickelt für ihr dramatisches Einzelschicksal eine atmosphärisch dichte Bildsprache, deren Sogwirkung den Zuschauer nicht kalt lässt.