Michel Franco

New Order – Die neue Weltordnung

Die Eindringlinge besprühen ein Gemälde. Foto: Ascot Elite Entertainment
(Kinostart: 12.8.) Dystopie als Holzschnitt: Der mexikanische Regisseur Michel Franco inszeniert die soziale Spaltung seines Landes mit plakativ farbensatter Symbolik – kommt aber mit abgründigem Klassenkampf-Gemetzel über Schwarzweißmalerei kaum hinaus.

Ein buntes, expressionistisches Gemälde; eine Treppe, von der eine neongrüne Flüssigkeit tropft; eine Kamerafahrt über Leichen, die mit weit aufgerissenen Augen auf der Straße liegen. Die surreale Montage-Sequenz zu Beginn des neuen Films von Regisseur Michel Franco setzt den Tenor für die nächsten 90 Minuten – und nimmt der folgenden Eingangsszene schon vorab ihre Unschuld.

 

Info

 

New Order - Die neue Weltordnung

 

Regie: Michel Franco,

88 Min., Mexiko/ Frankreich 2020;

mit: Naian González Norvind, Diego Boneta, Fernando Cuautle

 

Weitere Informationen zum Film

 

Auf dem luxuriösen Anwesen eines Villenviertels in Mexiko-Stadt findet die Hochzeitsfeier von Marianne (Naian González Norvind) statt. High Society aus dem ganzen Land ist zu Gast. Es wird Champagner getrunken und geplaudert; das schöne, junge Paar küsst sich ständig. Bedienstete balancieren Tabletts und scherzen in der Küche. Dieses Idyll schreit geradezu danach, wie in einem Horrorfilm zur Kontrastfolie für all das zu werden, was folgt. Kurz nachdem Mariannes Mutter im Badezimmer grünes Wasser aus dem Hahn laufen sieht, springen nämlich Menschen über die Mauern des Anwesens.

 

Symbolträchtige Verwüstung

 

Es handelt sich um Demonstranten –  Akteure eines Aufstandes, der offenbar eskaliert. Wann und wie er genau begonnen hat, wird nicht erläutert. Klar jedoch ist: Es geht um Arm gegen Reich – und dieser Konflikt wird höchst militant ausgetragen. Die Aufständischen zögern nicht lange. Willkürlich erschießen sie Gäste, darunter Mariannes Eltern; außerdem plündern und zerstören sie die Einrichtung des Anwesens.

Offizieller Filmtrailer


 

Plakative Gegensätze

 

Später zeigt die Kamera ein schockierendes Bild der Verwüstung, inszeniert wie ein Stilleben. Es lässt sich symbolisch verstehen: Exzessiver Reichtum führt ins Verderben. Überhaupt setzt der farbsatte Film auf plakative Symbolik. Das knallrote Kleid der Braut etwa spielt auf ihre herausgehobene Rolle an. Als der ehemalige Bedienstete Rolando (Eligio Meléndez) vor dem Überfall auf der Hochzeit auftaucht und um Geld für die Operation seiner schwerkranken Frau bittet, ist sie die einzige in ihrer Familie, die ihm hilft.

 

Dass sie von der eigenen Hochzeit zu ihm nach Hause fährt und dort von abtrünnigen Militärs entführt wird, die sie dann in einem Gefängnis brutal foltern, verleiht ihr etwas geradezu Märtyrerhaftes – in einer moralfreien Welt, in der Emotionen kaum mehr zu existieren scheinen. Stattdessen wird das Geschehen von Affekten gesteuert: intensiven, schwer kontrollierbaren Regungen, die sich in Extremsituationen weiter hochschaukeln.

 

Unvermittelt eindringlich

 

Der Zuschauer entwickelt angesichts des Gemetzels kaum eine emotionale Beziehung zu den Figuren im Film – und schon gar keine Anteilnahme. Zu willkürlich erscheint die Gewalt, zu schwarz-weiß und plakativ sind die ständig gegeneinander geschnittenen Welten: hier die aufgeräumten, vollverglasten Villen vor blauem Horizont, dort heruntergekommene Wohnblöcke in müllgesäumten und blutgetränkten Straßen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Monos - Zwischen Himmel und Hölle" - bildgewaltiges Jugend-Guerilla-Epos im Dschungel von Kolumbien von Alejandro Landes

 

und hier eine Besprechung des Films "Nocturama" - raffiniert rätselhafte Studie über sinnfreien Jugend-Terror von Bertrand Bonello

 

und hier einen Beitrag über den Film "Die Wütenden – Les Misérables" - packendes Jugendgewalt-Drama in Paris von Ladj Ly, inspiriert durch den Romanklassiker von Victor Hugo

 

und hier einen Beitrag über den Film "Heli" – schonungslose Bestandsaufnahme allgegenwärtiger Gewalt in Mexiko von Amat Escalante.

 

Als hätte der mexikanische Regisseur sich vorgenommen, die berühmte Drehbuch-Regel „show, don’t tell“ zur Vollendung zu bringen – Ideen also zu verbildlichen, statt sie zu benennen – wird nur gezeigt und nichts erklärt. Dem internationalen Publikum wurde Franco erstmals durch das nuancierte Krankenpfleger-Drama Chronic“ (2015)  bekannt. In „New Order“ ordnen jedoch die Protagonisten an keiner Stelle das Geschehen ein, reflektieren ihr Handeln oder diskutieren. Psychologische Einblicke bleiben aus. 

Zugleich lässt genau jene erzählerische Distanz zum Gezeigten den Film so eindringlich wirken – und auf eine perverse Art realistisch.

 

Mahnmal für Mexiko

 

So wirkt der Kreislauf der Gewalt zwischen den Abgehängten aus den Armenvierteln und dem Militär, das vermeintlich die Reichen in ihren abgeschirmten gated communities schützt, wie ein Automatismus. Alles, was den Leuten bleibt, ist zu reagieren auf eine Welt, deren weiterer Lauf ihrem Einfluss völlig entzogen scheint.

 

Es ist, als habe Franco ein fiktionalisiertes Mahnmal geschaffen für ein Land, dessen Sicherheitskräfte im Zuge der Drogenkartell-Kriege immer stärker aufrüsten, und in dem allein im vergangenen Jahr mehr als 34.000 Menschen ermordet worden sind. So betrachtet erschließt sich auch der symbolische Charakter des mysteriösen Grüns, mit dem die Aufständischen hantieren: Es spielt, gemeinsam mit dem allgegenwärtigen Blut, auf die Farben der mexikanischen Nationalflagge an. Eine ästhetisch gelungene, wenn auch sehr zynische Metapher.