Jasmila Žbanić

Quo vadis, Aida?

Aida Selmanagic (Jasna Đuričić). Foto: farbfilm verleih
(Kino-Start: 5.8.) Tricksen und Schmeicheln, Flehen und Drohen: Aida setzt alles daran, um ihre Familie vor dem Massaker von Srebrenica 1995 zu bewahren. Regisseurin Jasmila Žbanić erinnert ergreifend an das Totalversagen der UN-Blauhelme im Bosnienkrieg.

Aida rennt – nein, sie hechtet durch die UN-Militärbasis in Srebrenica wie eine Verfolgte. Die Treppen rauf und wieder runter, kreuz und quer durch die Gänge, vorbei an Soldaten, Freunden, Fremden und Verletzten. Gejagt von der Angst, ihren Mann und ihre beiden Söhne zu verlieren, wenn sie jetzt nicht genug unternimmt. Getrieben von der Gewissheit, dass sie gegen die Zeit läuft. Die Lehrerin hat lange genug als Übersetzerin zwischen den Fronten des Bosnienkriegs gearbeitet, um zu durchschauen, welchen Plan die bosnisch-serbischen Truppen unter Führung von Ratko Mladić (Boris Isaković) verfolgen.

 

Info

 

Quo vadis, Aida?

 

Regie: Jasmila Žbanić,

104 Min., Bosnien/ Herzegowina/ Österreich/ Rumänien 2020;

mit: Jasna Đuričić, Izudin Bajrović, Boris Isaković

 

Weitere Informationen zum Film

 

Im Juli 1995 verladen sie vor den Toren der von UN-Blauhelmen geschützten Militärbasis Tausende bosnischer Männer und Frauen getrennt in Busse und auf Lastwagen für den Abtransport ins Verderben – und nicht, wie es Mladić gegenüber der verängstigten Bevölkerung formuliert, „um sie in Sicherheit zu bringen“. Dabei sterben rund 8000 Menschen, fast ausschließlich Männer und Jungen. Jasmila Žbanićs Film rekonstruiert die Hintergründe des Massakers von Srebrenica, das der Internationale Strafgerichtshof für Ex-Jugoslawien später als das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnete. Die bosnische Regisseurin und Drehbuchautorin erzählt das Geschehen mit fiebrigem Tempo, das von Beginn an ansteckend wirkt. Jasna Đuričić in der Hauptrolle ist die treibende Kraft dieses beklemmendes Trauerspiels.

 

Ein Platz auf der Liste

 

Đuričić spielt mit einer Überzeugungskraft, die Aidas zerrissene Seele sichtbar macht. Sie lässt spüren, wie sehr diese Frau mit sich kämpft, in ihrer Position als Dolmetscherin nach außen hin den Schein der Professionalität zu wahren – während die Welt um sie herum zerbricht. Gleichzeitig setzt sie mit Tricksen und Schmeicheln, Flehen und Drohen alles daran, ihrer Familie Plätze auf einer UN-Personenliste zu verschaffen, die Sicherheit verspricht. Auf dieser Liste steht bisher nur ihr Name.

Offizieller Filmtrailer


 

Tragödie und Thriller

 

Immer wieder schwenkt die Kamera langsam über die Gesichter von Vätern, Söhnen, Brüdern, Ehemännern und Nachbarn. Sie beobachtet ihren ernsten, versteinerten Ausdruck, zeigt ihre Angst und Verzweiflung, aber auch die Stärke und anklagenden Blicke der Menschen, die dem Tod entgegen sehen. Dabei geht Regisseurin Žbanić ein Wagnis ein: In ihrem Film balanciert sie zwischen realer Tragödie und packendem Thriller – ohne jemals die Brutalität der Ereignisse im zerfallenden Jugoslawien auszublenden oder herunterzuspielen, und ohne sich in Sentimentalitäten oder Beschwichtigungen zu flüchten.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Djeca – Kinder von Sarajevo" – Drama über Kriegswaisen in Bosnien von Aida Begić

 

und hier einen Bericht über den Film "Der serbische Anwalt" – Doku über den Verteidiger von Bosnienkriegs-Verbrecher Karadžić von Aleksandar Nikolić

 

und hier einen Beitrag über den Film "Aus dem Leben eines Schrottsammlers" – Sozialstudie von Danis Tanović, prämiert mit dem Großen Preis der Berlinale-Jury 2013

 

Die 1974 in Sarajevo geborene Žbanić hat den Krieg in Bosnien als junge Frau miterlebt; seitdem beschäftigt sie sich mit der Vergangenheit, die bis heute gegenwärtig ist und noch immer viele Konflikte verursacht. Für ihr Debüt „Esmas Geheimnis – Grbavica“ über im Krieg vergewaltigte Frauen wurde sie 2006 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. „Quo Vadis, Aida?“ war in diesem Jahr für den Auslands-Oscar nominiert.

 

Verhängnisvoller Umtrunk

 

Žbanić sagt, das Buch „Under the UN-Flag“ des UN-Dolmetschers Hasan Nuhanović habe sie zu ihrem Film inspiriert: Nuhanović verlor seine Eltern und einen Bruder in Srebrenica, weil die UN-Friedenstruppen seinen Angehörigen keinen Schutz gewährleisten wollten. Im Nachhinein hat Nuhanović die Verantwortlichen für ihr Fehlverhalten vor Gericht gebracht. Für Aida dagegen steht von vornherein fest, dass sie ein Nein der Blauhelmsoldaten nicht akzeptieren will. Ihre Tatkraft demonstriert einen Mut zum freien Willen, der „Quo Vadis, Aida?“ über weite Strecken beflügelt.

 

Nach Ansicht von Žbanić hätte es in Srebrenica durchaus Möglichkeiten gegeben, das Geschehen zu beeinflussen und 8000 Leben zu retten. Das Versagen der UN-Blauhelme, deren Aufgabe war, die zivile Bevölkerung vor Ort zu schützen, wird auf erschreckende Weise illustriert, wenn der holländische UN-Befehlshaber Karremans (Johan Heldenbergh) mit Mladić verhandelt: Am Ende stoßen sie an – kurz darauf beginnt die serbische Armee mit der Deportation.