Auf Katastrophen abonniert: Mit „Hell“ gelang dem Schweizer Regisseur Tim Fehlbaum vor zehn Jahren ein zugkräftiger deutscher Genrefilm. Er zeichnete ein sehr düsteres Bild der nahen Zukunft und brachte das Thema Klimaerwärmung anschaulich auf die Leinwand. Die gleißende, feurige Trockenheit dieser Dystopie wird in seinem neuen Film durch das gegensätzliche Element abgelöst: Wasser beherrscht nach einer Umwelt-Apokalypse wieder die Erdoberfläche.
Info
Tides
Regie: Tim Fehlbaum,
104 Min., Deutschland/ Schweiz 2021;
mit: Nora Arnezeder, Iain Glen, Sarah-Sofie Boussnina, Sope Dirisu
Postapokalyptisches Esperanto
Dagegen hat Blake (Nora Arnezeder) lediglich ein paar Blessuren davongetragen; sofort macht sie auf die Suche nach Lebewesen. Schon bald trifft sie auf andere Menschen, die offenbar gut an die von Gezeiten bestimmten Lebensbedingungen angepasst sind – und sie haben Kinder. Doch ihre Sitten sind rau; es geht ums nackte Überleben. Dafür haben sie sogar aus vielen Einflüssen eine neue Sprache entwickelt, sozusagen ein postapokalyptisches Esperanto.
Offizieller Filmtrailer
Elitäre Demagogie als Bedrohung
Blake treten sie äußerst feindselig gegenüber. Sie halten den Neuankömmling für jemanden aus der anderen Siedlung, die aus Überlebenden einer früheren Kepler-Mission besteht. Diese Leute gehen nicht zimperlich mit den „Ureinwohnern“ um, die sie als „Muds“ bezeichnen und zuweilen entführen, am liebsten Kinder. Warum sie das tun, wird Blake wenig später erfahren; dabei trifft sie alte Bekannte wieder, deren Mission offensichtlich aus dem Ruder gelaufen ist.
In „Tides“ variiert Fehlbaum erneut die Figur einer kämpferischen, aber sensiblen Heldin à la Ellen Ripley aus „Alien“ (1979) oder Sarah Connor aus „Terminator“ (1984). Hier muss die Hauptfigur aber nicht gegen Maschinen oder fremde Wesen kämpfen, sondern gegen menschliche Dämonen, die sehr spezielle Pläne verfolgen. Während „Hell“ die Verrohung der Sitten beim Überlebenskampf in feindlicher Natur darstellte, reichert der Regisseur „Tides“ mit einem aktuellen Thema an: der Bedrohung durch elitäre Demagogie.
Hier züchtet der Chef selbst
Kepler-Anführer Gibson (Iain Glen aus „Game of Thrones“) will nicht etwa die Schlammbewohner wieder zivilisieren. Er betrachtet sie stattdessen aus klassischer Kolonisatoren-Perspektive als Menschenmaterial zum Zwecke der Züchtung; daher lässt er vor allem Mädchen erbeuten, die anschließend von ihm höchstpersönlich umerzogen werden. Warum genau, bleibt letztlich recht verworren; wie manche anderen Erzählstränge, die angerissen werden und dann liegen bleiben.
Hintergrund
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Perfekt durchdachte Aufnahmen
Die straff militärisch organisierten Kepler-Kolonisatoren residieren dagegen in einem verrosteten Ozeanfrachter-Wrack, tragen saubere Uniformen, teilen ihre Gefangenen in Gruppen mit verschiedenen Pflichten ein, indoktrinieren Kinder und isolieren Abtrünnige. Wie diktatorische Regime seit Anbeginn der Menschheit.
Regisseur Fehlmann hat große Teile des Films tatsächlich an ‚Originalschauplätzen’ im stimmungsvoll inszenierten Wattenmeer gedreht. Seine englische Fassung mit einem multikulturellen Ensemble zielt offenkundig auf den internationalen Markt. Dabei gelingen ihm mit perfekt durchdachten Aufnahmen dieser amphibischen Welt beeindruckende Effekte und Schauwerte.
Logik zählt im Genrefilm wenig
Diese aquatische Optik macht „Tides“ durchaus sehenswert. Fehlmanns ausgeprägter Stilwille kann aber nicht die Schwächen der reichlich dünnen Story kaschieren, die zudem sehr unbefriedigend endet. Doch Binnenlogik und Konsequenz spielen in Genre-Filmen ohnehin eher Nebenrollen.