Anne Fontaine

Bis an die Grenze (OT: Police)

Aristide (Omar Sy) hat eine Affäre mit seiner Kollegin Virginie (Virginie Efira). Copyright: Studiocanal GmbH / Thibault Grabherr
(Kinostart: 30.9.) Ist eine Schwangere empathischer? Drei Polizisten stehen vor der Frage, ob sie einen Migranten abschieben oder laufen lassen sollen. Ihr moralisches Dilemma spitzt Regisseurin Anne Fontaine nicht sonderlich glaubwürdig zu.

Drei Polizisten, eine Schicht: Schon die Einstiegsszene frühmorgens in der heimischen Küche verdeutlicht, dass dies kein guter Tag für die Polizistin Virginie (Virginie Efira) wird. Das Kind quengelt, der Haussegen hängt schief. Ihr Mann ist sauer, weil sie – offenbar nicht zum ersten Mal – vergessen hat, dass heute Abend ein Besuch bei seiner Mutter ansteht. Dabei hat die junge Frau andere Sorgen: Sie ist schwanger – allerdings nicht von ihrem Mann, sondern von ihrem Kollegen Aristide (Omar Sy), einem charmanten Luftikus, der seine tieferen Gefühle für Virginie jedoch zumeist versteckt. Morgen soll die Abtreibung stattfinden.

 

Info

 

Bis an die Grenze (OT: Police)

 

Regie: Anne Fontaine,

98 Min., Frankreich/ Belgien 2020;

mit: Omar Sy, Virginie Efira, Grégory Gadebois

 

Weitere Informationen zum Film

 

Auch bei dem frustrierten, zerknittert wirkenden Kollegen Erik (Grégory Gadebois), der eher Dienst nach Vorschrift macht, liegt zuhause manches im Argen: Seine ewig nörgelnde Ehefrau wird nicht schwanger und gibt ihm die Schuld dafür. Überdies versteckt sie dauernd seine Zigaretten. Außerdem hat Eric ein latentes Alkoholproblem.

 

Kind in Gefriertruhe

 

Die erste Stunde dieses Dramas von Regisseurin Anne Fontaine – ihr bekanntester Film ist „Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft“ (2009) – zeigt, was die drei Polizisten im Laufe ihrer Schicht erleben werden. Etwa, wie Virginie und Erik eine Frau begleiten, die von ihrem Mann misshandelt wurde und nun ein paar Sachen aus der Wohnung holen will: Ihre Mission wird dadurch erschwert, dass sie vor Ort Mitgefühl mit ihrem Peiniger entwickelt. Danach werden Erik und Aristide zu einer Frau gerufen, die ihr Kind in eine Gefriertruhe gesteckt hat, damit es sich beruhigt. Nun ist es tot.

Offizieller Filmtrailer


 

Freiwilliger Sondereinsatz

 

Diese Einsätze sind nur der Auftakt ihres Tages, der in einige menschliche und gesellschaftliche Abgründe blicken lässt. Davon erzählt der Film nacheinander aus allen drei Perspektiven. Eine durchaus spannende Ausgangsidee: So könnte ein Einblick in den Alltag einer Pariser Polizeieinheit entstehen, der unerwartete Aspekte offenbart. Leider unterscheiden sich die Durchläufe nur minimal, es kommt kaum Neues hinzu. Fast stellt sich Langweile ein.

 

Erst nach diesem langen, einigermaßen verkorksten Vorlauf wendet sich der Film dem eigentlichen Zentrum der Handlung zu: Obwohl der bisherige Tag eher unerquicklich war, melden sich die drei abends freiwillig zu einem Sondereinsatz – was wohl vor allem ihrer jeweiligen privaten Situation geschuldet ist.

 

Abschieben oder laufen lassen?

 

Der tadschikische Asylbewerber Tohirov soll aus dem Flüchtlingslager zum Flughafen gebracht werden; seine Abschiebung steht bevor. Die drei Polizisten können nicht mit dem verängstigten Mann kommunizieren: Er spricht weder Englisch noch Französisch. Doch der Blick in seine Akte, den Virginie entgegen der Vorschrift riskiert, macht klar: Offenbar wird Tohirov in sein sicheres Verderben geschickt. Was bedeutet es für die Polizisten, wenn sie trotzdem ihre Dienstanweisung befolgen? Haben sie Entscheidungs-Spielräume?

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Styx" - eindringliches Flüchtlingsdrama auf hoher See von Wolfgang Fischer

 

und hier eine Besprechung des Films "Heute bin ich Samba" - einfühlsame Tragikomödie über illegale Einwanderer in Frankreich von Olivier Nakache und Eric Toledano mit Omar Sy

 

und hier einen Bericht über den Film "Tage am Strand"  - lesbisches Liebesdrama mit Naomi Watts + Robin Wright von Anne Fontaine

 

und hier ein Beitrag über den Film "Mein liebster Alptraum" – sozialutopische Liebeskomödie von Anne Fontaine.

 

Plötzlich steht die Frage im Raum, ob man dem Mann zur Flucht verhelfen könnte oder gar sollte – eine Frage, auf die alle drei unterschiedliche Antworten finden, die sich auch noch ständig ändern. Die unentschlossenen Signale, die sie in Tohirovs Richtung senden, sind missverständlich: So bleibt Aristide, der den Wagen lenkt, nach Augenkontakt mit Virginie an einer Kreuzung lange stehen, als wolle er Tohirov spontan zur Flucht ermutigen. Doch der fürchtet offenbar, erschossen zu werden, sollte er fliehen.

 

Zahnräder im System

 

Glaubwürdig ist das nicht, was sich auf dieser dramatischen Fahrt zum Flughafen abspielt. Zumal sich alle drei darüber im Klaren sind, dass sie lediglich Zahnräder im System sind und ihr Auftrag von anderen erledigt wird, wenn sie es nicht tun. Die Geschichte nach Hugo Boris‘ Roman „Die Polizisten“ von 2016 läuft auf eher banale ethische Fragen hinaus: Ist eine Frau, die schwanger ist, empathischer für die Zumutungen des Daseins?

 

Auch das dramatische Finale am Flughafen gibt Rätsel auf. Man kennt derlei in ähnlicher Form eher als etabliertes Motiv aus Romantik-Tragikomödien – wenn Sicherheitsschleusen todesmutig überwunden werden, um einen Menschen am Abflug zu hindern. An Tohirovs Schicksal wird das jedenfalls kaum etwas ändern. Egal, wie man darauf blickt: Trotz überzeugender Leistungen der Schauspieler wird das dramatische und emotionale Potenzial, das in dieser Geschichte steckt, weitgehend verschenkt.