Johannes Naber

Curveball – Wir machen die Wahrheit

BND-Chef Schatz (Thorsten Merten) bejubelt im Kreis der BND-Mitarbeiter den Coup "Curveball". Foto: © Sten Mende
(Kinostart: 9.9.) Wie eine Hintergrund-Reportage zum Afghanistan-Abzug: Das aberwitzige Lügengebäude, das der BND vor dem Irakkrieg 2003 auftürmte, nimmt Regisseur Johannes Naber genüsslich auseinander. Als brillante Polit-Satire – die leider nur allzu wahr ist.

„Eine wahre Geschichte. Leider“: Selten waren die Geleitworte im Vorspann eines Kinofilms so zutreffend. Die Vorgänge, von denen „Curveball“ erzählt, sind in groben Zügen seit Jahren bekannt. Doch sie gelangten nur scheibchenweise an die Presse; daher erregten sie nie die öffentliche Aufmerksamkeit, die sie verdient hätten. Nun haben Regisseur Johannes Naber und sein Ko-Drehbuchautor Oliver Keidel eine bitterböse Realsatire daraus gemacht, bei der das Lachen von vorneherein im Halse stecken bleibt – erstickt vom ungläubigen Staunen, wie unfassbar das Gezeigte ist. Das Schlimmste daran: Es bleibt sehr nah an der Wirklichkeit.

 

Info

 

Curveball – Wir machen die Wahrheit

 

Regie: Johannes Naber,

108 Min., Deutschland 2020;

mit: Sebastian Blomberg, Dar Salim, Virginia Kull

 

Website zum Film

 

Ende 1999 kommt der Iraker Rafid Alwan (Dar Salim) nach Deutschland und beantragt politisches Asyl. Er behauptet, als Chemie-Ingenieur im Irak an der Produktion biologischer Kampfstoffe wie Anthrax beteiligt gewesen zu sein. Der Bundesnachrichtendienst (BND) lässt ihn durch den Biowaffen-Experten Arndt Wolf (Sebastian Blomberg) befragen, der selbst bis 1997 im Irak nach Massenvernichtungswaffen gesucht hat. Alwan weiß, was er wert ist: Er verlangt eine eigene Wohnung und Vollversorgung. Nur seine Einbürgerung lehnt der BND vorerst ab.

 

Bleistift-Skizze aus der Shisha-Bar

 

Schließlich ‚enthüllt’ Alwan, dass Diktator Saddam Hussein Biowaffen auf Trucks produzieren lasse, die ständig unterwegs seien; als ‚Beleg’ liefert er eine Bleistift-Skizze, gezeichnet in einer Shisha-Bar. Wolf reicht sie weiter – und landet einen Volltreffer. Sein Vorgesetzter Schatz (Thorsten Merten), dessen Chefs, das Kanzleramt und Bundeskanzler Schröder persönlich: Alle sind begeistert, dass endlich der BND einmal die Nase vorn hat. „Wir waren bisher doch immer nur der Fußabtreter des CIA“, klagt Schatz.

Offizieller Filmtrailer


 

BND hält Info über Lügner geheim

 

Allerdings mehren sich Anzeichen, dass der Informant mit dem Decknamen „Curveball“ hochstapelt. Sein Blut enthält keine Anthrax-Antikörper, in die angebliche Lagerhalle könnten Trucks nicht hineinfahren, und bei Alwan wird ein früheres Gutachten von Wolf gefunden, in dem er über fahrbare Produktionsanlagen spekuliert. Der Iraker hat offenbar diese Idee bei seinem Quellenführer abgekupfert. Was er zugibt; Wolf wird beurlaubt.

 

Die Anschläge vom 11. September ändern alles. In Washington wird händeringend nach Begründungen für einen Krieg gegen den Irak gesucht. Nun stellt sich heraus, dass die CIA nie darüber informiert worden war, dass Alwan – mittlerweile stolzer deutscher Staatsangehöriger – gelogen hat; diese Blöße wollten sich BND und Kanzleramt nicht geben. 2003 macht der US-Geheimdienst sogar Jagd auf den Informanten und entführt ihn nach Oberbayern; seine Aussagen sollen im TV gesendet werden.

 

Boden der Wirklichkeit löst sich auf

 

Das vermag Wolf zu verhindern; als Fluchtfahrzeug dient dem Duo ein Schlitten. Dessen ungeachtet präsentiert US-Außenminister Colin Powell am 5. Februar vor dem UN-Sicherheitsrat Bilder von rollenden Waffenfabriken. Sie beruhen auf Alwans Skizze. Ob das nicht zu simpel sei, fragt ein US-Bürokrat einen hochrangigen Offizier. Im Gegenteil, antwortet dieser: „Die Leute lieben simple Dinge“. Der Rest ist Kriegsgeschichte.

 

Naber und Keidel gelingt es nicht nur, die verwickelten Sachverhalte transparent zu entflechten. Sie zeigen auch bewunderungswürdig leicht und elegant, wie sehr vermeintlich eindeutige Informationen mit persönlichen Interessen der Akteure verquickt sind – bis keiner mehr weiß, wo harte Fakten in gezielte Irreführung übergehen. „Die leben schon in einer ganz speziellen Form von Paranoia, und ich habe gemerkt, wie ansteckend das ist“ sagt Oliver Keidel: „Wo es offiziell um Geheimhaltung geht, und Wahrhaftigkeit im Zweifel unter Strafe steht, löst sich der Boden der Wirklichkeit unter einem einfach auf.“

 

Karrieregeiler Choleriker als Boss

 

Hintergrund

 

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Zwar heißt nur Rafid Alwan tatsächlich so, aber alle anderen Figuren wurden nach realen Vorbildern modelliert. Sebastian Blomberg spielt den BND-Experten Wolf, der am liebsten zurück in den Irak möchte, wunderbar glaubwürdig als introvertierten Eigenbrötler mit maskenhaft reduzierter Mimik. Thorsten Merten als sein Vorgesetzter ist ein herrlich cholerischer Bürohengst, der mit leutseligen Sprüchen seine Karrieregeilheit kaschiert.

 

Beide an der Nase herumzuführen, fällt Dar Salim als Rafid Alwan nicht schwer. Und die CIA-Agentin Leslie (Virginia Kull), mit der Wolf im Irak eine Affäre hatte, gibt eine burschikose Opportunistin, die stets vertritt, was man ihr in Langley vorgibt: „Wir machen die Wahrheit.“

 

Von Bagdad nach Kabul

 

Dezent mit skurrilen Details angereichert – etwa der muffigen Bunker-Atmosphäre der BND-Zentrale in Pullach oder einer Doppel-Flucht vor angeblichen Killern in den Kleiderschrank – könnte man den Film als punktgenau inszenierte Polit-Sittenkomödie genießen. Wäre das Thema Wirklichkeitsverlust durch (Selbst-)Täuschung in der Außenpolitik nicht so schauerlich aktuell: Die jüngste Fortsetzung ist zurzeit in Afghanistan zu besichtigen. Nach 20 Jahren Daueralimentierung implodiert das dortige Marionettenregime – und der Westen fällt aus allen Wolken.

 

Dazu zitiert der FAZ-Verteidigungsexperte Peter Carstens den deutschen Ex-Botschafter in Pakistan, Martin Kobler: „Er gab zu, die Abgesandten oder Offiziere in Kabul oder Kundus hätten korrekt den Ernst der Lage beschrieben. Doch seien die Berichte in höheren Etagen dann ‚über viele, viele Jahre geschönt’ worden. Auch Deutschland habe außerdem Korruption und schlechtes Regieren in Afghanistan nicht verhindert, sondern gefördert. Mehrere deutsche Außenminister haben das gewusst. Zuletzt auch Heiko Maas, der oft genug in Kabul war.“

 

Schön auf der Laufbahn bleiben

 

Nun sind Hunderte Milliarden Hilfsgelder futsch – und das nächste Desaster kündigt sich an: Der achtjährige Auslandseinsatz in Mali droht, in einem Fiasko zu enden. Doch Steuergelder in sieben- bis neunstelliger Höhe zu verpulvern, stört deutsche Spione und Diplomaten kaum, solange nur die eigene Laufbahn unbeschädigt bleibt. Egal, wer unter ihnen die Regierung bildet: Am 26. September sind Bundestagswahlen.