Albert Markert

Beuys ist ein deutscher Markenartikel

Albert Markert vor einem seiner Kunstwerke zum Thema Joseph Beuys. Fotoquelle: Peter Funken
100 Jahre Joseph Beuys: Im Reigen der Gedenkschauen wird kaum Kritik am Aktionskünstler laut. Ko-Buchautor Albert Markert wies bereits 1996 nach, dass etliche seiner Ideen in der NS-Zeit gründen – der Beuys-Kult blieb davon unbeeindruckt. Ein Gespräch über langlebige Legenden.

Herr Markert, vor 25 Jahren haben Sie mit Frank Gieseke das Buch „Flieger, Filz und Vaterland – eine erweiterte Beuys-Biographie“ im Verlag Elefanten Press veröffentlicht. 1996 stellte es kritische Fragen nach der unzureichend erforschten Vita von Beuys, brachte unbekannte Dokumente ans Licht und formulierte den Vorwurf, dass die Beuys-Rezeption kaum in der Lage war, die Künstler-Vita zu trennen von selbst erfundenen Legenden und esoterischen bis völkischen Vorstellungen aus der NS-Zeit. Hat sich seitdem etwas geändert?  

 

Info

 

Von der Sprache aus.
Joseph Beuys zum 100. Geburtstag

 

13.06.2021-15.09.2021

täglich außer montags 10 - 18 Uhr,

am Wochenende ab 11 Uhr im

Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart, Invalidenstraße 50/51, Berlin

 

Weitere Informationen

 

Nur wenig. Diejenigen, die wir im Buch kritisierten, bestimmen noch heute das öffentliche Bild von Beuys, sofern sie nicht verstorben sind. Schon Anfang der 1970er Jahre waren die Fronten zwischen seinen Anhängern und Kritikern so verhärtet, dass es kaum konstruktive Auseinandersetzungen zwischen ihnen gab. Schamane oder Scharlatan, Gottvater oder Dummkopf: Zwischen diesen Extremen scheint keine Diskussion möglich.

 

Karussell gegenseitigen Zitierens

 

Dabei gab und gibt es interessante kritische Positionen. Bereits 1984 hat der US-Amerikaner John F. Moffit auf „The Völkische Charakter“ von Beuys’ Theorien hingewiesen. Hans Platschek kritisierte, dass Beuys politische und soziale Verhältnisse für seine Zwecke instrumentalisiere, um den kapitalistischen Kunstmarkt mit einem metaphysisch aufgeladenem Angebot zu bedienen. Demnach befriedige Beuys vor allem ein bürgerliches Bedürfnis nach Tiefsinnigkeit. Politische Zustände würden zu Magie, die Warenwelt zum Stillleben und soziale Verhältnisse zu Bastelmaterial für seine Theorien, so Platschek.

 

Auch Barbara Lange hat den „Mythos vom Künstler als Gesellschaftsreformer“ kritisch befragt,  ebenso Hans Peter Riegel in seiner mehrbändigen Analyse des Phänomens Beuys. Trotzdem ist mein Eindruck, dass die Beuys-Literatur ein sich selbst reproduzierendes System darstellt – ein Karussell gegenseitigen Zitierens, das nicht zu einer Entmythisierung führt.

Offizieller Trailer zur Ausstellung "Von der Sprache aus. Joseph Beuys zum 100. Geburtstag"; © SMB


 

Sozialer Organismus als Volksgemeinschaft

 

Wie erklärt sich die anhaltende Popularität von Beuys?

 

Beuys hat gerade in den 1970er Jahren viele Menschen bewegt; seine Kritik an objektiven Missständen sprach vielen Menschen aus dem Herzen. Die Formeln „Jeder Mensch ist ein Künstler“ oder „Kunst = Kapital“, sein Bild von der Gesellschaft als Sozialer Plastik, Begriffe wie Ökologie und Direkte Demokratie wurden als Inspirationsquelle begriffen. Beuys sprach 1983 auf der Krefelder Friedensdemonstration; er plädierte für einen Volksentscheid über die Stationierung atomarer Waffensysteme. Er setzte sich dafür ein, von der Pinochet-Junta verfolgten Chilenen Asyl zu gewähren, und er war Mitbegründer der Grünen.

 

Alles sehr okay, aber: Empirische Forschung kommt noch zu ganz anderen Ergebnissen. Die ideengeschichtlichen Bezüge, die er als Grundlage seiner politischen Konzepte anbietet, sind mehr als fragwürdig. In seiner Vorstellung von der Gesellschaft als „sozialem Organismus“ träumte Beuys von einer homogenen Gesellschaftsordnung, die ihre historische und gewalttätige Entsprechung im Konzept der Nazis von der Volksgemeinschaft findet. Sozialharmonische Utopien haben oft einen Hang zum Totalitären; darauf hat Bazon Brock mit Bezug auf Beuys schon früh hingewiesen.

 

Außerdem verglich Beuys die geistige Situation der 1970er Jahre in der Bundesrepublik mit Auschwitz: „Ich finde zum Beispiel, dass wir nun Auschwitz in seinem zeitgenössischen Charakter erfahren. Diesmal werden zwar Körper eher äußerlich erhalten (kosmetische Mumifizierung) als vernichtet, doch dafür werden andere Dinge eliminiert. Geschicklichkeit und Kreativität werden ausgebrannt: eine Form spiritueller Hinrichtung, die Schaffung eines Klimas der Angst – das ist vielleicht sogar gefährlicher, weil es so verfeinert ist.“ Damit relativierte Beuys den Holocaust; das ist gefährlicher Humbug!

 

Von NS-Bildungsinhalten beeinflusst

 

Gab es in jüngster Zeit neue Erkenntnisse der Beuys-Forschung, die seine Person anders beleuchten und seinen Kultstatus relativieren?  

 

Bis 1996 herrschte die Meinung vor, die „Tatarenlegende“ habe sich wirklich so zugetragen, wie sie von Beuys erzählt wurde: Dass er als Kampfflieger im Zweiten Weltkrieg auf der Krim abgestürzt und von Tataren mit Filz und Fett gepflegt worden sei. Unser Buch hat dazu beigetragen, diese Legende und andere Mythen zu widerlegen. Andere zentrale Thesen des Buches werden bis heute ignoriert; etwa, dass sein „Erweiterter Kunstbegriff“ ein völkisches Sozialismusmodell propagiert.

 

Dass Beuys durch seine Jugend in der NS-Zeit wesentlich in seiner Theoriebildung beeinflusst wurde, wird von seinen Anhängern noch immer vehement bestritten, obwohl in seinem gesamten Werk Krieg und Nationalsozialismus zentrale Themen sind. Es liegt also nahe, die Einflüsse von NS-Bildungsinhalten auf sein Denken zu untersuchen.

 

Biologismus-Buch von 1944 als Quelle

 

Welche da wären?

 

Ein Beispiel: In der Beuys-Literatur wird mehrfach auf Bernhard Bavinks Buch „Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften“ als wichtige Quelle für Beuys hingewiesen. Die 1. Auflage des Buchs erschien 1914. Ein Exemplar der 8. Auflage von 1944, das sich im Nachlass von Beuys befinden soll, wurde prominent gezeigt in der großen Ausstellung „Kult des Künstlers: Beuys. Die Revolution sind wir“ im Hamburger Bahnhof 2008/09.

 

Bavink war völkischer Nationalist, Eugeniker und Antisemit. Beuys’ Theorien weisen zahlreiche Parallelen zu Bavinks Denken auf: in seiner Kritik an Liberalismus und Kommunismus, am Materialismus als historisch vorübergehender Epoche, in der positiven Sicht auf das germanische Christentum und einer biologistischen Idee vom Staat. Manche Passagen wirken wie Eins zu Eins durch Beuys übernommen; dennoch ist er selbst kein völkischer Nationalist, Eugeniker und Antisemit.

 

Beuys-Fans wissen wenig über NS

 

Welche Argumentationsketten der Beuys-Anhänger behaupten sich in diesem Kontext bis heute?

 

Häufig wird der NS-Bezug mit der Begründung geleugnet, das Werk von Beuys sei fragmentarisch, zerrissen und uneindeutig. Seine stillen Environments, sensiblen grazilen Zeichnungen und oft kryptischen Multiples wären kaum geeignet, Nazi-Ideologie zu vermitteln. In der Tat kommt Beuys’ Wirken tatsächlich friedlich daher; er plädiert für Waffenlosigkeit.

 

Ansonsten wird oft mit seiner a-heroischen Material-Ästhetik argumentiert. Seine Äußerungen, vor allem die Gesellschaftsutopien, werden als irgendwie humanistisch und künstlerisch-alternativ aufgefasst. Solche Argumente nehme ich ernst; allerdings habe ich den Eindruck, dass Beuys’ Verteidiger meist keine Vorstellung davon haben, was NS-Ideologie und völkische Ideologie überhaupt sind. Das ist ja kein einheitliches System, sondern ein „chaotischer Pluralismus“ aus konkurrierenden Ansätzen, so der Historiker Eberhard Alef.

 

Ordnung wie im Bienenstaat

 

Wie sähe eine Gesellschaft aus, in der die von Beuys geforderten Veränderungen Einzug gehalten hätten? 

 

Das ist eine schwierige Frage. Beuys sprach vom „schwer erkrankten sozialen Organismus“. Das heißt, wir würden in einem „gesunden sozialen Organismus“ leben.

 

Was wären die Symptome der schweren Erkrankung?

 

Liberalismus, Materialismus, Parlamentarismus, Bolschewismus, Marxismus, Psychoanalyse, Katholizismus, die Zinswirtschaft, öffentlich-rechtliche Medien, staatliche Schulen und vieles mehr: Das alles gäbe es nicht mehr. Wir würden in einer organisch gewachsenen Ordnung leben, ähnlich wie im Bienenstaat, die Putzfrau wäre so zufrieden wie der Professor, alle arbeiten für die Gesellschaft. Bei Bavink heißt das: „Jeder freut sich seiner Stelle.“ Auch „das Geschlechtliche“, wie Beuys sagte, wäre geregelt.

 

Spirituelles Christentum der Germanen

 

Der soziale Organismus wäre anthroposophisch dreigegliedert: Freiheit im Geistesleben, Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben, Gleichheit im Rechtsleben. Beuys bietet als Heilmittel ein „spirituelles Christentum“ an, dessen Wurzeln er bei Kelten und Germanen sieht. In dieser Ordnung bilden sich Eliten nicht aufgrund von ökonomischen Verhältnissen oder politischer Macht, sondern wachsen quasi natürlich aus dem sozialen Organismus heraus. Geld wäre kein Wirtschaftswert, sondern Rechtsregulativ.

 

Wir hätten bessere Wohnungseinrichtungen. Die Menschen wären glücklich, da sie ihr kreatives Potential frei entfalten könnten. „Das Problem der Fremdarbeiter“, das noch 1977 auf der documenta 6 parallel zur Honigpumpe am Arbeitsplatz diskutiert wurde, wäre gelöst. Es gäbe eine patriarchalische Ordnung. Der Mann geht zur Arbeit, die Frau kümmert sich um die Kinder. Wir hätten eine Art Totalitarismus, der sanft organisch gewachsen ist. Für mich wäre das nichts.

 

Beuys-Parolen als Leerformeln

 

Wo bleibt das Gute? Immerhin wollte Beuys einen direkteren Umgang mit Kunst und ihrer Vermittlung; auch die basisdemokratische Forderung, Menschen an Entscheidungsprozessen unmittelbarer teilhaben zu lassen, wirkt positiv.

 

Positive Aspekte sehe ich in seiner assoziativen Lust, verschiedene Formen der Kunst durchzudeklinieren. Er hat ein bildnerisches Werk geschaffen, das mit ausufernder Energie aufgeladen ist. Es kann noch heute noch für viele Künstler Vorbild sein: sich nicht beschränken lassen oder an Trends und Märkten zu orientieren. In seinem Werk wirkt Beuys sehr autonom. Aber seine theoretischen Modelle vom „Erweiterten Kunstbegriff“ halte ich für überschätzt. Parolen wie „Jeder Mensch ist ein Künstler“ oder „Kunst = Kapital“ sind im Grunde genommen Leerformeln. Ihre Attraktion beruht auf der Assoziation: „Kunst ist gut und Kreativität auch – deshalb wird die Gesellschaft gut, wenn jeder Künstler ist“.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Beuys" - Doku-Porträt des Aktionskünstlers von Andreas Veiel mit Klaus Staeck

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung „Freibeuter der Utopie – Die Kunst der Weltverbesserung“ mit Werken von Joseph Beuys in der Weserburg, Bremen

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung „Ausweitung der Kampfzone: Die Sammlung 1968 – 2000“ mit einer Mega-Installation von Joseph Beuys in der Neuen Nationalgalerie, Berlin.

 

Natürlich kann jeder Mensch an der Gestaltung der Gesellschaft mitwirken, das geschieht ja permanent. Menschen engagieren sich in Gewerkschaften, in der Flüchtlingshilfe oder für Obdachlose. Das mag nicht immer kreativ sein, wichtig ist es allemal. Dafür braucht man keinen erweiterten Kunstbegriff; das gehört zum Wesen der pluralistischen Gesellschaft. Doch Pluralismus lehnt Beuys als unorganisch und zersplitternd ab. Da fragt sich also, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen Beuys‘ Kreativitätsbegriff zur Entfaltung kommen kann.

 

Beuys-Kritik als Landesverrat

 

2021 wird der 100. Geburtstag von Beuys mit zahlreichen Ausstellungen gewürdigt. Können Sie eine Ausstellung empfehlen, die Werk und Wirken einer kritischen Revision unterzieht?

 

Mir ist keine solche Ausstellung bekannt. Beuys ist ein deutscher Markenartikel; Beuys-Kritik ist nicht profitabel. Der Schweizer Kunsthistoriker Beat Wyss hat vor Jahren gesagt, er habe das Gefühl, kritische Ansätze in der Beuys-Forschung würden als „Landesverrat mittels Kunstkritik“ empfunden. Trotzdem würde ich mir gerne die Ausstellung „Intuition!“ zum Frühwerk von Beuys im Museum Kurhaus Kleve anschauen; in der rheinischen Kleinstadt ist er aufgewachsen. Nötig wäre eine Emanzipation der Rezipienten und ein freier Austausch aller Ideen zu Beuys. Der erweiterte Kunstbegriff muss erweitert werden!

 

Anmerkung der Redaktion: Das Auschwitz-Zitat findet sich laut Markert in unterschiedlichen Fassungen mehrfach in der Beuysliteratur. 2004 war der zweite Abschnitt – groß und unkommentiert an die Wand geschrieben  – Teil der Ausstellung „Partisanen der Utopie: Joseph Beuys, Heiner Müller“ im Museum Schloss Neuhardenberg. Im Katalog zur Schau wird Markert zufolge als Quelle angegeben: „Joseph Beuys in einem Gespräch mit Caroline Tisdall, September/Oktober 1978. Erschienen in: ‚Joseph Beuys’, Solomon R. Guggenheim Museum, New York 1979, S. 23. Zitiert nach: Joseph Beuys , Plastische Arbeiten 1947 – 1985. Krefeld 1991, S. 15; Übersetzung von Sabine Röder“.