
In Panik rennt ein Junge im Grundschulalter durch den Wald, mit einem Hermelin im Arm; er flieht vor einer Horde gleichaltriger, wie Bauernkinder gekleideter Jungs. Sie schneiden ihm den Weg ab, stürzen sich auf ihn, schlagen ihn zusammen, entreißen ihm das Tier, übergießen es mit Benzin – und beobachten interessiert, wie es schreiend in einem Feuerball verendet.
Info
The Painted Bird
Regie: Václav Marhoul,
169 Min., Tschechien 2019;
mit: Petr Kotlár, Udo Kier, Stellan Skarsgård, Harvey Keitel
Weitere Informationen zum Film
Qualvolle Odyssee
Doch sehr bald kann der Junge nicht mehr vermeiden, erneut und endgültig in die Welt hinaus gehen zu müssen. Eines Morgens trifft er Marta auf ihrem Stuhl sitzend – als er erkennt, dass sie tot ist, stößt er vor Schreck eine Öllampe um und setzt so den Hof in Flammen. Der brennt lichterloh ab. Damit beginnt die qualvolle Odyssee des Jungen durch das bäuerlich-archaische Osteuropa in den Wirren des Krieges.
Offizieller Filmtrailer
Sog des schwarzweißen Bilderstroms
Václav Marhoul inszeniert sein Drama nach dem gleichnamigen Roman (1965) von Jerzy Kosiński, der wegen Plagiatsvorwürfen umstritten ist, mit enormem Aufwand: in neun epischen Tableaus in brillantem Schwarzweiß und 35mm-Cinemascope. Mit eindrucksvollen Totalen, langsamen Kamerafahrten, Großaufnahmen von Gesichtern und Details hat der Film einen sogähnlichen Rhythmus, der an den Fluss eines mächtigen Stroms erinnert. Lange Einstellungen im Licht der Morgen- oder Abenddämmerung strukturieren die Tage. Immer wieder verschwinden Personen in die Schwärze der Nacht, Szenen enden in Schwarzblenden. Etliche könnten auch in früheren Jahrhunderten spielen – kreisten nicht ab und zu deutsche Kampfflugzeuge über leeren Landschaften.
Auf Musik zur Untermalung und Dramatisierung der Handlung verzichtet der Regisseur; außer wenn ihre Quellen im Bild zu sehen sind. Umso schockierender wirken Momente extremer Gewalt, die in den ruhigen, fast lethargischen Gang der Handlung einbrechen. Nicht der totale Krieg an der Front wird gezeigt, sondern untergründig anhaltende Spannung, in der jeder jeden belauert. Plötzlich kommt es zu unvermittelten Entladungen – Mord, Totschlag oder Demütigung. Jederzeit kann sich die Stärke eines Mächtigeren als Gemeinheit, Folter oder Aberglaube gegen einen Schwächeren wenden – etwa einen Fremden.
Tod eines bemalten Vogels
In einer allegorischen Szene im Mittelteil des Films zeigt das eindrucksvoll ein Vogelfänger, bei dem der Junge zeitweise Unterschlupf gefunden hat: Er bemalt einen gefangenen Vogel und entlässt ihn zurück zu seinem Schwarm – sofort stürzen sich seine Artgenossen auf ihn und hacken auf den bemalten Vogel ein, bis er tot vom Himmel fällt.
Die neun Tableaus sind nach den Protagonisten benannt, denen der Junge begegnet. Lose assoziierend variieren sie Konstellationen ungleicher Machtverhältnisse und beschäftigen sich mit Ursachen von Aggressionen: Aberglaube, Eifersucht, institutionalisierte Religiosität oder Kriegsgräuel. Doch der Film erschöpft sich nicht in der Aneinanderreihung immer makabrerer Grausamkeiten. Trotz aller menschlichen Versehrungen in Kriegszeiten erlebt die Hauptfigur auch Momente von Zuneigung, Hilfsbereitschaft oder Mitgefühl.
Das Böse durch Kinderaugen betrachten
Umso schlimmer wirkt es dann allerdings jedes Mal, wenn sich diese Momente als trügerisch erweisen oder durch die Brutalität der Umstände beiseite gefegt und vernichtet werden. Einmal scheint ein Abhängigkeitsverhältnis sogar ums Haar in Richtung Zuneigung oder gar Liebe umzuschlagen – um im nächsten Moment verraten zu werden.
Hintergrund
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Ein Rest unzerstörbarer Hoffnung
Entscheidend für den Film ist aber die phänomenale Präsenz des jungen Laiendarstellers Petr Kotlár in seiner ersten Filmrolle. Gedreht wurde im Verlauf mehrerer Jahre; so kann man das Heranwachsen des Protagonisten während der Filmhandlung in Echtzeit beobachten. Im Zusammenspiel mit den einprägsamen Bildern entsteht ein existentielles Drama, das zwar geschichtlich wenig spezifisch bleibt, dessen Wucht man sich jedoch nicht entziehen kann – wobei es zugleich als Fabel über einen unzerstörbaren Rest Hoffnung berührt. Obwohl das Anschauen an einigen Stellen weh tut.