Stellan Skarsgård + Harvey Keitel

The Painted Bird

Der Wehrmachtssoldat Hans (Stellan Skarsgård) soll den Jungen (Petr Kotlár) erschießen. Foto: © 2019 – Silver Screen – Ceska Televize
(Kinostart: 9.9.) Weltkriegs-Odyssee durch Osteuropa: Einen Roman von Jerzy Kosiński verfilmt Regisseur Václav Marhoul als episches Panoptikum von Grauen und Gewalt – mit internationalem Star-Ensemble und einem phänomenalen Jungen in der Hauptrolle.

In Panik rennt ein Junge im Grundschulalter durch den Wald, mit einem Hermelin im Arm; er flieht vor einer Horde gleichaltriger, wie Bauernkinder gekleideter Jungs. Sie schneiden ihm den Weg ab, stürzen sich auf ihn, schlagen ihn zusammen, entreißen ihm das Tier, übergießen es mit Benzin – und beobachten interessiert, wie es schreiend in einem Feuerball verendet.

 

Info

 

The Painted Bird

 

Regie: Václav Marhoul,

169 Min., Tschechien 2019;

mit: Petr Kotlár, Udo Kier, Stellan Skarsgård, Harvey Keitel

 

Weitere Informationen zum Film

 

Der sprachlose Junge (Petr Kotlár) lebt bei der alten Marta auf ihrem Hof. Nach der Attacke erklärt sie ihm, er sei selbst schuld – so etwas passiere, wenn er allein nach draußen gehe. Denn er ist schon auf den ersten Blick als Fremder erkennbar: Teint und Haarfarbe unterscheiden ihn von den Bewohnern der abgelegen Gegend. Später erfährt man, dass er von seinen Eltern bei Marta untergebracht wurde, um ihn während des Zweiten Weltkriegs vor Verfolgung durch die Wehrmacht im Osten Europas zu verstecken.

 

Qualvolle Odyssee

 

Doch sehr bald kann der Junge nicht mehr vermeiden, erneut und endgültig in die Welt hinaus gehen zu müssen. Eines Morgens trifft er Marta auf ihrem Stuhl sitzend – als er erkennt, dass sie tot ist, stößt er vor Schreck eine Öllampe um und setzt so den Hof in Flammen. Der brennt lichterloh ab. Damit beginnt die qualvolle Odyssee des Jungen durch das bäuerlich-archaische Osteuropa in den Wirren des Krieges.

Offizieller Filmtrailer


 

Sog des schwarzweißen Bilderstroms

 

Václav Marhoul inszeniert sein Drama nach dem gleichnamigen Roman (1965) von Jerzy Kosiński, der wegen Plagiatsvorwürfen umstritten ist, mit enormem Aufwand: in neun epischen Tableaus in brillantem Schwarzweiß und 35mm-Cinemascope. Mit eindrucksvollen Totalen, langsamen Kamerafahrten, Großaufnahmen von Gesichtern und Details hat der Film einen sogähnlichen Rhythmus, der an den Fluss eines mächtigen Stroms erinnert. Lange Einstellungen im Licht der Morgen- oder Abenddämmerung strukturieren die Tage. Immer wieder verschwinden Personen in die Schwärze der Nacht, Szenen enden in Schwarzblenden. Etliche könnten auch in früheren Jahrhunderten spielen – kreisten nicht ab und zu deutsche Kampfflugzeuge über leeren Landschaften.

 

Auf Musik zur Untermalung und Dramatisierung der Handlung verzichtet der Regisseur; außer wenn ihre Quellen im Bild zu sehen sind. Umso schockierender wirken Momente extremer Gewalt, die in den ruhigen, fast lethargischen Gang der Handlung einbrechen. Nicht der totale Krieg an der Front wird gezeigt, sondern untergründig anhaltende Spannung, in der jeder jeden belauert. Plötzlich kommt es zu unvermittelten Entladungen – Mord, Totschlag oder Demütigung. Jederzeit kann sich die Stärke eines Mächtigeren als Gemeinheit, Folter oder Aberglaube gegen einen Schwächeren wenden – etwa einen Fremden.

 

Tod eines bemalten Vogels

 

In einer allegorischen Szene im Mittelteil des Films zeigt das eindrucksvoll ein Vogelfänger, bei dem der Junge zeitweise Unterschlupf gefunden hat: Er bemalt einen gefangenen Vogel und entlässt ihn zurück zu seinem Schwarm – sofort stürzen sich seine Artgenossen auf ihn und hacken auf den bemalten Vogel ein, bis er tot vom Himmel fällt.

 

Die neun Tableaus sind nach den Protagonisten benannt, denen der Junge begegnet. Lose assoziierend variieren sie Konstellationen ungleicher Machtverhältnisse und beschäftigen sich mit Ursachen von Aggressionen: Aberglaube, Eifersucht, institutionalisierte Religiosität oder Kriegsgräuel. Doch der Film erschöpft sich nicht in der Aneinanderreihung immer makabrerer Grausamkeiten. Trotz aller menschlichen Versehrungen in Kriegszeiten erlebt die Hauptfigur auch Momente von Zuneigung, Hilfsbereitschaft oder Mitgefühl.

 

Das Böse durch Kinderaugen betrachten

 

Umso schlimmer wirkt es dann allerdings jedes Mal, wenn sich diese Momente als trügerisch erweisen oder durch die Brutalität der Umstände beiseite gefegt und vernichtet werden. Einmal scheint ein Abhängigkeitsverhältnis sogar ums Haar in Richtung Zuneigung oder gar Liebe umzuschlagen – um im nächsten Moment verraten zu werden.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Es ist schwer, ein Gott zu sein" - monumentale Sci-Fi-Roman-Verfilmung von Alexej German

 

und hier eine Besprechung des Films "Marketa Lazarova" - experimentell-authentisches Mittelalter-Epos von František Vláčil

 

und hier ein Bericht über den Film "Die Werckmeisterschen Harmonien" - komplexe postsowjetische Parabel von Béla Tarr.

 

Für seinen grundsätzlichen Ansatz, das Böse allein durch die Augen eines Kindes zu betrachten – wie in „Die Blechtrommel“ (1979) von Volker Schlöndorff – hat Marhoul ein beachtliches Ensemble international renommierter Stars engagiert. Unter anderem treten auf: Stellan Skarsgård als deutscher Soldat Hans; Udo Kier als erst starrender, dann abrupt ausrastender Müller; Harvey Keitel als vorübergehend Schutz bietender Priester und Julian Sands als gewaltverliebter Pädophiler.

 

Ein Rest unzerstörbarer Hoffnung

 

Entscheidend für den Film ist aber die phänomenale Präsenz des jungen Laiendarstellers Petr Kotlár in seiner ersten Filmrolle. Gedreht wurde im Verlauf mehrerer Jahre; so kann man das Heranwachsen des Protagonisten während der Filmhandlung in Echtzeit beobachten. Im Zusammenspiel mit den einprägsamen Bildern entsteht ein existentielles Drama, das zwar geschichtlich wenig spezifisch bleibt, dessen Wucht man sich jedoch nicht entziehen kann – wobei es zugleich als Fabel über einen unzerstörbaren Rest Hoffnung berührt. Obwohl das Anschauen an einigen Stellen weh tut.