Nicht alles, was auf der Bühne funktioniert, überzeugt auf der Leinwand. Das jüngste Beispiel ist Stephen Chboskys Verfilmung des Musicals „Dear Evan Hansen“: Es feierte im Dezember 2016 am Broadway seine Premiere und wurde im Folgejahr mit sechs „Tony Awards“ ausgezeichnet, quasi den Oscars für Theaterstücke und Musicals.
Info
Dear Evan Hansen
Regie: Stephen Chbosky,
137 Min., USA 2021;
mit: Ben Platt, Amy Adams, Julianne Moore
Weitere Informationen zum Film
Fehlende Geradlinigkeit
Damit erreicht das Libretto von Steven Levenson trotz seiner Verschachtelungen nach zweieinhalb Stunden sein Ziel: die Zuschauer beseelt und zu Tränen gerührt in die Nacht zu entlassen. Diese Stringenz und Geradlinigkeit fehlt seinem Drehbuch zum Film, was die Kinofassung streckenweise künstlich aufgeladen und oberflächlich erscheinen lässt.
Offizieller Filmtrailer
Brief-Mitleser begeht Selbstmord
Dabei ist die Handlung die gleiche: Der introvertierte Gymnasiast Evan Hansen soll auf Anweisung seines Therapeuten lebensbejahende Briefe an sich selber schreiben, um an Selbstvertrauen zu gewinnen. Als sein ähnlich komplizierter, aber aggressiverer Mitschüler Connor (Colton Ryan) einen dieser Briefe in die Hände bekommt, in dem Evan unter anderem von dessen Schwester Zoe (Kaitlyn Dever) schwärmt, befürchtet er das Schlimmste.
Womit Evan aber nicht rechnet: Connor begeht kurz darauf Selbstmord. Seine Familie glaubt aufgrund des Briefes, dass die beiden Jungen Freunde waren. Evan will zunächst den Irrtum aufklären. Doch die Vorstellung, einen Blutsbruder gehabt zu haben, ist für ihn zu verlockend; er verstrickt sich immer mehr in ein Netz aus Lügen und Fantasien.
Mama serviert ihm Müsli
Diesen Evan Hansen verkörpert seit Anfang an Musical-Star Ben Platt, schon bevor die Show überhaupt am Broadway landete. Damals war der 1993 Geborene Anfang Zwanzig; man nahm ihm den Part des innerlich zerrissenen Teenagers noch ab. Sechs Jahre später wirkt Platt jedoch deutlich zu alt sei für diese Rolle. Man muss beim Zusehen kurz schlucken, dass da jemand von seiner Mutter Heidi (Julianne Moore) das Frühstücksmüsli vorgesetzt bekommt, der mittlerweile alt genug wäre, um seinen Studienabschluss in der Tasche zu haben. Doch im Laufe des Films wird die Besetzung der Kino-Hauptrolle mit Platt immer plausibler.
Hintergrund
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Weniger wäre mehr gewesen
Das übrige Ensemble, zu dem neben Julianne Moore auch Amy Adams als Connors Mutter zählt, ist darauf bedacht, dem Geschehen die nötige dramatische Bodenhaftung zu geben. Das gelingt ihm angesichts der Schwächen des Drehbuchs nicht durchweg. Dennoch treten einige Szenen positiv hervor: etwa die Gespräche zwischen Evan und Zoe, oder der Augenblick, in dem Heidi bewusst wird, wie bequem sich ihr Sohn ohne ihr Wissen bei Connors Familie eingenistet hat.
So wird die Kinoversion von „Dear Evan Hansen“ zu einem etwas durchwachsenen Versuch, den Zauber eines erfolgreichen Broadway-Musicals auf die Leinwand zu übertragen. Eine etwas weniger plakative Umsetzung, die unbedingt große Gefühle heraufbeschwören will, hätte dem Film gut getan. In ihm behalten die Songs ihre Kraft, die sich mit mehr Drama oder längeren Dialogen nicht übertreffen lassen – vor allem nicht, wenn Platt sie mit seiner weichen, glasklaren Stimme interpretiert.